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Lorenz Oken (Hrsg.): Isis

nicht nöthig zu haben, wäre das Kennen aller Sprachen, in denen die großen Dichter geschrieben, griechisch, lateinisch, italänisch, französisch, spanisch, englisch, deutsch. Aber welche Abmühung, welche Zeit, welche Hülfsmittel fordert ein solches Studium! Wer kann hoffen, daß so viel Wissen allgemein[WS 1] werde? Und doch aufs Allgemeine muß der es anlegen, der den Menschen Gutes erweisen will. Ich sage mehr: Wenn einer vollkommen die fremden Sprachen versteht, und dennoch eine gute Uebersetzung in seiner Sprache zu lesen unternimmt, so wird ihm so zu sagen ein heimisches und innerliches Vergnügen zustömen durch diese neuen Farben, ungewöhnten Weisen, welche der dietische Styl erwirbt, indem er sich diese fremden Schönheiten aneignet. Wenn die Gelehrten eines Landes sich alle und oft fallen sehen in die Wiederholung derselben Bilder, derselben Entwürfe, derselben Weisen; so ist es ein offenbares Zeichen, daß die Fantasieen verarmen, die Gelehrsamkeit unfruchtbar wird: sie wieder zu versorgen gibt es kein besseres Mittel als Uebersetzen von Dichtern anderer Diete.

Bewahren wir uns, soll diese Arbeit von Nutzen seyn, vor dem Brauch der Franzosen, die Dinge der andern so zu verändern, daß von ihrem Ursprung nichts mehr zu erblicken ist. Jener, welcher alle Dinge, die er berührte, in Gold verwandelte, fand nichts mehr, das ihn nährte. Weder würde von solch verkehrter Art der Uebersetzungen der Gedanke Nahrung ziehen, noch würde in den, gleichwohl von ferne gesuchten Dingen Neuigkeit erscheinen; denn man sähe immer dasselbe Gesicht mit wenig Veränderung der Zierathen. Aber dieser Fehler der Franzosen hat viele Entschuldigungen: die Verskunst bei ihnen ist voll Ungeschlachtheiten; Seltenheit der Reime; Unverschiedenheit der Maaße, Schwierigkeit der Wendungen: der arme Poet ist in solch enge Drehbahn eingeschlossen, daß er nothwendig zurückfallen muß, wenn nicht in die nämlichen Gedanken, doch in gleichelnde Halbverse; und der Versbau nimmt natürlich eine langweilige Eintönigkeit an, von der sich wohl der Geist dann befreien kann, wann er sich in seinem Flug höher hebt, aber nicht, wann er so zu sagen, im Ebenen wandert, und von einem Gegenstand zum andern schreitet; und seinen Plan auslegt, und seine Kräfte sammelt, und seine Hiebe zubereitet.

Dessenthalben sind bei den Franzosen die guten poetischen Uebersetzungen selten; ausgenommen die Georgica vom Abbe De-Lille gemein gemacht. Unsere Uebersetzer ahmen gut nach; verwandeln [100] ins Französische, was sie anderwärts genommen so, daß ihr es nicht mehr zu unterscheiden wissen sollt: aber nirgends finde ich ein Dichtwerk, welches seinen Ursprung erkennen ließe, und seine fremden Mienen behalten hätte: auch glaube ich, daß solche Arbeiten nie können gemacht werden. Und wenn wir nach Verdienst die Georgica des Abbe De-Lille bewundern, so ist daran Ursache die größere Aehnlichkeit, welche unsere Sprache mit der römischen, aus der sie entstanden, hat, und deren Majestät und Pomp sie behält (!). Allein die neuern Sprachen sind der französischen so ungleich, daß, wenn sie sich jenen wollte anpassen, sie alle Zierde verlöre.

Die Engländer viel freier als wir sowohl im Versbau als in der Wendung der Phrasen hätten sich bereichern können mit Uebersetzungen, die mit Genauigkeit und Natürlichkeit gemacht gewesen wären; wenn nicht die ersten Schriftsteller dieses Dietes die Mühe gescheut hätten: und Pope (und zwar der einzige) hat zwei schöne Gedichte aus der Ilias und aus der Odysse genommen, aber er behielt nichts von der antiken Einfalt bei, in der wir die Wirksamkeit und die geheime Macht von Homers Styl fühlen.

Und wahrlich! Es ist nicht wahrscheinlich, daß durch 3000 Jahre hindurch Homers Geist sollte über alle andere Dichter erhaben geblieben seyn. Aber in den Sagen, in den Gebräuchen, in den Meinungen, in allen Mienen dieser homerischen Zeit liegt etwas Urliches, welches unersättlich ergötzt; da liegt ein Anfang des menschlichen Geschlechts[WS 2], eine Jugend der Jahrhunderte, welche beim Lesen Homers diejenigen Gefühle in unser Gemüth zurückruft, die uns jederzeit bei der Erinnerung an unsere Jugend rühren: und diese innere Rührung, welche sich mit den Bildern des goldenen Zeitalters mischt, macht, daß der älteste Dichter von uns allen andern Dichtern vorgezogen wird. Wenn du dem homerischen Werk diese Einfalt einer Welt die beginnt, wegnimmst, so ist es nichts besonderes mehr, und wird gewöhnlich.

In Deutschland wollen viele Gelehrte, daß Homers Werke nicht von einem einzigen verfertiget seyen; und daß die Ilias und die Odysse eine Sammlung verschiedener Gesänge sey, durch die man in Griechenland die Eroberung Trojas feierte, und die Rückkehr der Sieger. Mir scheints, daß man dieser Meinung leicht widersprechen könne: und daß die Einheit des Entwurfs der Ilias nicht erlaubt zu glauben an diese Verschiedenheit der Verfasser und

Zeiten. Warum sich vorsetzen, nur Achillis Entrüstung

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: allge|gemein
  2. Vorlage: Geschlechs
Empfohlene Zitierweise:
Lorenz Oken (Hrsg.): Isis. Brockhaus, Jena 1817, Seite 99–100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Isis_1817_50a.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2018)