Seite:Köster Alterthümer 132.png

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zum Himmel und sangen in lateinischer Sprache das Lied: Mitten wir im Leben sind – ein Lied, gesungen in Herzensangst, in unmittelbarer Nähe des Todes, unter dem Gefühl eigener äußerster Gefahr – das mag geklungen haben! Dies alte lateinische Kirchenlied (Media in vita etc.) hatte Luther übersetzt, und nun sangen die Kinder des ketzerischen Stammes den Siegesgesang ihrer Feinde in der Dorfschule – wunderbare Vergeltung!

Als der Küster glaubte, daß die Kinder genug gesungen hätten, ließ er aufhören. Er wandte sich um, nahm langsam einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete einen Wandschrank, in welchem das, was er an werthvoller Habe besaß, verwahrt wurde, und zog ein Buch daraus hervor. Es war Luthers kleiner Katechismus, den der Küster von Johannes Hoddersen empfangen hatte, dem Pastoren zu Büttel, der ein persönlicher Freund Luthers und Bugenhagens und der eifrigste Verbreiter der evangelischen Lehre war. Weil die Knaben nicht lesen konnten, so mußte der Lehrer jeden einzelnen Satz vorsagen, welchen die Schule dann im Chore so lange nachsprach, bis er im Gedächtniß haftete. Auf diese Weise wurde das ganze Buch durchgelernt und immer wieder von vorn angefangen. Das war eine mühselige, aber nothwendige Arbeit, und der Segen derselben blieb nicht aus. Die Knaben nahmen diese Belehrung in ihre Seele auf, als einen Schatz für ihr ganzes Leben, und ein so mühsam erworbener Gewinn war ihnen theuer und werth. Nachdem ungefähr eine Stunde mit dem Hersagen des Katechismus hingebracht war, sah der Küster nach seinem Sonnenweiser am Fenster. Derselbe zeigte auf elf Uhr, und es wurde Zeit, für den Tag die Schule zu schließen. Nachmittags war kein Unterricht, und länger als etwa zwei Stunden durfte die Schule Morgens nicht dauern. Wiederum wurde der älteste Knabe aufgefordert zu beten. Er stand auf, die anderen Kinder falteten die Hände; ein Gebet wurde mit großer Schnelligkeit gesprochen, darauf die Bänke an die Wand gestellt und hinaus stürmte die Jugend, um im elterlichen Hause zu rechter Zeit beim Mittagsbrote anzukommen. Die Magd am Kamine hatte das ihrige auch fertig gemacht und deckte den Tisch für den Küster.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Köster: Alterthümer, Geschichten und Sagen der Herzogthümer Bremen und Verden. Stade: In Commision bei A. Pockwitz, 1856, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:K%C3%B6ster_Alterth%C3%BCmer_132.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)