Seite:Lucians Werke 0960.jpg

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12. Lycinus. Nun wohlan, mein Polystratus, zahle mir meine Beschreibung mit einer andern baar zurück, oder vielmehr, da du reich genug dazu bist, mit Zinsen,[1] indem du mir ein Bild ihrer Seele malest und mich in Stand setzest, mehr als blos die Hälfte von ihr zu bewundern.

Polystratus. Freund, die Aufgabe ist stark, und der Kampf ungleich: denn es ist bei weitem leichter, Vorzüge zu schildern, die einem Jeden in die Augen fallen, als unsichtbare Eigenschaften mit Worten deutlich darzustellen. Und so, denke ich, werde auch ich einiger Gehülfen zu diesem Geschäfte, und zwar keiner bloßen Maler und Bildhauer, sondern der Philosophen bedürfen, um nach ihren Regeln und Mustern mein Bild zu formen und es als ein Werk der ächten alten Kunst aufzustellen.

13. Wohlan denn! Vorerst ihre Stimme, um mit dieser anzufangen, ist voll und melodisch; und hätte Homer sie gekannt, gewiß er hätte von ihr vielmehr, als von seinem Pylischen Alten [Nestor] gesagt, daß ihr

– von der Zung’ ein Laut, wie des Honiges Süße daherfloß.[2]

Der Ton ihrer Rede ist äußerst weich, nicht so tief, um in’s Männliche zu fallen, aber auch nicht so hoch und fein, um allzu weiblich zu klingen und der gehörigen Fülle zu entbehren; kurz er lautet wie die Stimme eines noch nicht entwickelten Jünglings, süß, lieblich, und in das Ohr so sanft sich einschmeichelnd, daß, auch wenn sie zu reden aufgehört hat, uns ist, als töne die Melodie ihrer Stimme wie ein sanftverhallendes


  1. „oder – Zinsen.“ Wieland.
  2. Iliade I, 245.
Empfohlene Zitierweise:
Lukian von Samosata: Lucian’s Werke. J. B. Metzler, Stuttgart 1827–1832, Seite 960. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lucians_Werke_0960.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)