Seite:Märchen (Montzheimer) 091.jpg

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Balduin stutzte, ergriff seines Bruders Arm und rief hastig: „Bruder, hörst du’s? Die Jungfrauen im Falkenschloß singen. Wir müssen ganz nah’ sein. Komm’ ohne Säumen!“

Und ohne sich noch einmal nach Immo umzublicken, bestieg er sein Roß, eilig davonreitend. Immo mußte ihm wohl oder übel folgen, da der Uebereifrige für seine Warnrufe taub war.

Eilends verbarg der Jüngling seine kostbare Wurzel, dem Bruder über Stock und Stein auf den Berggipfel folgend.

Es dauerte auch nicht lange, so entdeckte er Gemäuer, zugleich auch Balduin, der nahe demselben entlang ritt.

Ein finsterer Bau war es, der kaum Fenster zu haben schien. Aber nicht von dort erklang der Gesang, vielmehr kam er aus einem Turm, welcher nahe dem Falkenschloß auf erhöhter Stelle lag. Sonderbarerweise war er rings von sumpfigem Wasser umgeben und nur durch eine lange, vom Schloß aus dorthin führende Zugbrücke zugänglich. Jetzt hörten beide den Gesang und auch die Worte deutlich:

„Es rüttelt der Wind und der Sturm
Allstündlich wohl hier an dem Turm,
Doch Mauern und Tor sind gar fest. –
Wir Armen, wir sind hier gefangen
Und schau’n nach dem Retter mit Bangen
Nach Norden, nach Süd, Ost und West!“

Ach, der Gesang klang gar traurig, aber so süß und flehend, daß die Brüder wohl jetzt verstehen konnten, wie so viele Ritter und auch der Hirtenknabe von ihm bezwungen, ihr Rettungswerk versuchten.

Immo verlor die Ueberlegung trotzdem aber nicht. Er zog nun an einem verborgenen Plätzchen, im tiefen Schatten der Bäume, die Zauberwurzel hervor, um den Rat des Springmännchens zuvor zu befragen, trotzdem er in Unruhe war, weil Balduin, seiner abermaligen Warnung ungeachtet, in stürmischer Ungeduld dem Schloß nahte.

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Elsbeth Montzheimer: Märchen. Leipziger Graphische Werke AG, Leipzig 1927, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:M%C3%A4rchen_(Montzheimer)_091.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)