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[32] politischen Massenstreik“ zu gelangen, eine künstliche logische Sektion an dem Massenstreik vornimmt, so wird bei diesem Sezieren, wie bei jedem anderen, die Erscheinung nicht in ihrem lebendigen Wesen erkannt, sondern bloß abgetötet.

     3. Endlich zeigen uns die Vorgänge in Rußland, daß der Massenstreik von der Revolution unzertrennlich ist. Die Geschichte der russischen Massenstreiks, das ist die Geschichte der russischen Revolution. Wenn freilich die Vertreter unseres deutschen Opportunismus von „Revolution“ hören, so denken sie sofort an Blutvergießen, Straßenschlachten, an Pulver und Blei, und der logische Schluß daraus ist: Der Massenstreik führt unvermeidlich zur Revolution, ergo dürfen wir ihn nicht machen. In der Tat sehen wir in Rußland, daß beinahe jeder Massenstreik im letzten Schluß auf ein Renkontre mit den bewaffneten Hütern der zarischen Ordnung hinausläuft; darin sind die sogenannten politischen Streiks den größeren ökonomischen Kämpfen ganz gleich. Allein die Revolution ist etwas anderes und etwas mehr als Blutvergießen. Im Unterschied von der polizeilichen Auffassung, die die Revolution ausschließlich vom Standpunkte der Straßenunruhen und Krawalle, d. h. vom Standpunkte der „Unordnung“ ins Auge faßt, erblickt die Auffassung des wissenschaftlichen Sozialismus in der Revolution vor allem eine tiefgehende innere Umwälzung in den sozialen Klassenverhältnissen. Und von diesem Standpunkt besteht zwischen Revolution und Massenstreik in Rußland auch noch ein ganz anderer Zusammenhang als der von der trivialen Wahrnehmung konstatierte, daß der Massenstreik gewöhnlich im Blutvergießen endet.

     Wir haben oben den inneren Mechanismus der russischen Massenstreiks gesehen, der auf der unaufhörlichen Wechselwirkung des politischen und des ökonomischen Kampfes beruht. Aber gerade diese Wechselwirkung ist bedingt durch die Revolutionsperiode. Nur in der Gewitterluft der revolutionären Periode vermag sich nämlich jeder partielle kleine Konflikt zwischen Arbeit und Kapital zu einer allgemeinen Explosion auszuwachsen. In Deutschland passieren jährlich und täglich die heftigsten, brutalsten Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Unternehmern, ohne daß der Kampf die Schranken der betreffenden einzelnen Branche oder der einzelnen Stadt, ja Fabrik überspringt. Maßregelungen organisierter Arbeiter wie in Petersburg, Arbeitslosigkeit wie in Baku, Lohnkonflikte wie in Odessa, Kämpfe um das Koalitionsrecht wie in Moskau sind in Deutschland auf der Tagesordnung. Kein einziger dieser Fälle schlägt jedoch in eine gemeinsame Klassenaktion um. Und wenn sie sich selbst zu einzelnen Massenstreiks auswachsen, die zweifellos einen politischen Anstrich haben, so entzünden sie auch dann noch kein allgemeines Gewitter. Der Generalstreik der holländischen Eisenbahner, der trotz wärmster Sympathien mitten in völliger Unbeweglichkeit des Proletariats im Lande verblutete, liefert einen frappanten Beweis dafür.     Und umgekehrt, nur in der Revolutionsperiode, wo die sozialen Fundamente und die Mauern der Klassengesellschaft aufgelockert und in ständiger Verschiebung begriffen sind, vermag jede politische Klassenaktion des Proletariats in wenigen Stunden ganze bis dahin [33] unberührte Schichten der Arbeiterschaft aus der Unbeweglichkeit zu reißen, was sich sofort naturgemäß in einem stürmischen ökonomischen Kampf äußert. Der plötzlich durch den elektrischen Schlag einer politischen Aktion wachgerüttelte Arbeiter greift im nächsten Augenblick vor allem zu dem Nächstliegenden: zur Abwehr gegen sein ökonomisches Sklavenverhältnis; die stürmische Geste des politischen Kampfes läßt ihn plötzlich mit ungeahnter Intensität die Schwere und den Druck seiner ökonomischen Ketten fühlen. Und während z. B. der heftigste politische Kampf in Deutschland: der Wahlkampf oder der parlamentarische Kampf um den Zolltarif kaum einen vernehmbaren direkten Einfluß auf den Verlauf und die Intensität der gleichzeitig in Deutschland geführten Lohnkämpfe ausübt, äußert sich jede politische Aktion des Proletariats in Rußland sofort in der Erweiterung und Vertiefung der Fläche des wirtschaftlichen Kampfes.

     So schafft also die Revolution erst die sozialen Bedingungen, in denen jenes unmittelbare Umschlagen des ökonomischen Kampfes in politischen und des politischen Kampfes in ökonomischen ermöglicht wird, das im Massenstreik seinen Ausdruck findet. Und wenn das vulgäre Schema den Zusammenhang zwischen Massenstreik und Revolution nur in den blutigen Straßen Renkontres erblickt, mit denen die Massenstreiks abschließen, so zeigt uns ein etwas tieferer Blick in die russischen Vorgänge einen ganz umgekehrten Zusammenhang: In Wirklichkeit produziert nicht der Massenstreik die Revolution, sondern die Revolution produziert den Massenstreik.

     4. Es genügt, das Bisherige zusammenzufassen, um auch über die Frage der bewußten Leitung und der Initiative bei dem Massenstreik Aufschluß zu bekommen. Wenn der Massenstreik nicht einen einzelnen Akt, sondern eine ganze Periode des Klassenkampfes bedeutet, und wenn diese Periode mit einer Revolutionsperiode identisch ist, so ist es klar, daß der Massenstreik nicht aus freien Stücken hervorgerufen werden kann, auch wenn der Entschluß dazu von der höchsten Instanz der stärksten sozialdemokratischen Partei ausgehen mag. Solange die Sozialdemokratie es nicht in ihrer Hand hat, nach eigenem Ermessen Revolutionen zu inszenieren und abzusagen, genügt auch nicht die größte Begeisterung und Ungeduld der sozialdemokratischen Truppen dazu, eine wirkliche Periode der Massenstreiks als eine lebendige, mächtige Volksbewegung ins Leben zu rufen. Auf Grund der Entschlossenheit einer Parteileitung und der Parteidisziplin der sozialdemokratischen Arbeiterschaft kann man wohl eine einmalige kurze Demonstration veranstalten, wie der schwedische Massenstreik oder die jüngsten österreichischen oder auch der Hamburger Massenstreik vom 17. Januar. Diese Demonstrationen unterscheiden sich aber von einer wirklichen Periode revolutionärer Massenstreiks genau so, wie sich die bekannten Flottendemonstrationen in fremden Häfen bei gespannten diplomatischen Beziehungen von einem Seekrieg unterscheiden. Ein aus lauter Disziplin und Begeisterung geborener Massenstreik wird im besten Falle als eine Episode, als ein Symptom der Kampfstimmung der Arbeiterschaft eine Rolle spielen, worauf die Verhältnisse aber in den ruhigen Alltag zurückfallen. Freilich fallen auch während der Revolution

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Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften. Erbmann Dubber, Hamburg 1906, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Massenstreik,_Partei_und_Gewerkschaften_von_Rosa_Luxemburg.pdf/17&oldid=- (Version vom 29.6.2019)