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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13

und wonach Regierungsvorlagen stets vorgehen sollen, für den Reichstag nicht. In der Regel findet aber in jeder Woche an einem bestimmten Tag (bis auf weiteres am Mittwoch) eine Sitzung statt, in welcher an erster Stelle die von den Mitgliedern des Reichstags gestellten Anträge und die zur Erörterung im Plenum gelangenden Petitionen erledigt werden (sogen. Schwerinstag). Die Vorlagen des Bundesrats bedürfen einer dreimaligen Beratung (Lesung). Anträge von Reichstagsmitgliedern, welche von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet und mit der Eingangsformel: „Der Reichstag wolle beschließen“ versehen sein müssen, erfordern nur dann eine dreimalige Lesung, wenn sie Gesetzentwürfe enthalten; außerdem genügt eine einmalige Lesung. Die dreimalige Lesung beginnt mit der ersten Beratung, welche sich auf eine allgemeine Diskussion (Generaldebatte) über die Grundsätze des Entwurfs beschränkt und mit dem Beschluß darüber endigt, ob der Entwurf einer Kommission zur Vorberatung zu überweisen sei oder nicht. In diesem ersten Stadium der Verhandlung dürfen Abänderungsvorschläge (Amendements) seitens der Reichstagsmitglieder nicht eingebracht werden. Die zweite Lesung erfolgt frühstens am zweiten Tag nach Abschluß der ersten Beratung und, wenn eine Kommission eingesetzt ist, frühstens am dritten Tag nach Verteilung der gedruckten Kommissionsanträge an die Mitglieder des Hauses. Sie besteht in einer Diskussion (Spezialdebatte) über jeden einzelnen Artikel der Vorlage, in der Regel der Reihenfolge nach, woran sich dann die Abstimmung über die einzelnen Artikel anschließt. Nach Schluß der ersten bis zum Schluß der zweiten Lesung können von den Reichstagsmitgliedern Amendements eingebracht werden. Am Schluß der zweiten Beratung stellt der Präsident mit Zuziehung der Schriftführer die gefaßten Beschlüsse zusammen, falls durch dieselben Abänderungen der Vorlage stattgefunden haben, und ebendiese Zusammenstellung bildet die Grundlage für die dritte Lesung, als welche außerdem die Vorlage selbst dient. Ist jedoch der Entwurf in zweiter Lesung in allen seinen Teilen abgelehnt worden, so findet eine weitere Beratung überhaupt nicht statt. Die dritte Beratung erfolgt frühstens am zweiten Tag nach Abschluß der zweiten Lesung, resp. nach Verteilung der erwähnten Zusammenstellung; sie vereinigt nochmals eine General- und eine Spezialdiskussion in sich. Bei der dritten Lesung bedürfen Abänderungsvorschläge der Unterstützung von 30 Mitgliedern. Die dritte Lesung endigt mit der Schlußabstimmung über Annahme oder Ablehnung der Vorlage, wie sie sich im Lauf der Verhandlungen gestaltet hat. Handelt es sich um Anträge von Reichstagsmitgliedern, über welche nur einmal beraten wird, so müssen Abänderungsvorschläge ebenfalls von 30 Mitgliedern unterstützt sein.

Für die Reichstagsverhandlungen gilt das Prinzip der Diskontinuität, d. h. die Verhandlungen einer jeden Session erscheinen als etwas Selbständiges, wenn sie auch thatsächlich freilich vielfach an Vorhergegangenes anknüpfen. Es müssen daher Vorlagen des Bundesrats, welche in einer Session nicht zur Beratung kamen (hierfür ist die Redewendung „unter den Tisch des Hauses gefallen“ üblich), in der nächsten Session von neuem wieder eingebracht werden, wofern sie überhaupt zur Verhandlung kommen sollen. Dasselbe gilt von Anträgen und von Petitionen, die ebenfalls zu erneuern sind, wofern eine Verhandlung darüber gewünscht wird. Ebenso sind Beschlüsse und Berichte einer Kommission, welche in der einen Session dem Plenum nicht unterbreitet wurden, für die andre Session nicht maßgebend.

V. Abstimmung.

Der Präsident hat die Fragen so zu stellen, daß sie einfach durch „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Unmittelbar vor der Abstimmung ist die Frage zu verlesen. Ist vor einer Abstimmung infolge einer darüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer der fungierenden Schriftführer darüber zweifelhaft, ob eine beschlußfähige Anzahl von Mitgliedern anwesend sei, so erfolgt der Namensaufruf. Erklärt dagegen auf die erhobene Bemerkung oder den von einem Mitglied gestellten Antrag auf Auszählung des Hauses der Präsident, daß kein Mitglied des Büreaus über die Anwesenheit der beschlußfähigen Anzahl zweifelhaft sei, so sind damit Bemerkung und Antrag erledigt. Die Abstimmung geschieht nach absoluter Mehrheit durch Aufstehen und Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis nach der Ansicht des Präsidenten oder eines der fungierenden Schriftführer zweifelhaft, so wird die Gegenprobe gemacht. Liefert auch diese noch kein sicheres Ergebnis, so erfolgt die Zählung des Hauses und zwar in folgender Weise: Der Präsident fordert die Mitglieder auf, den Saal zu verlassen. Sobald dies geschehen, sind die Thüren zu schließen, mit Ausnahme einer Thür an der Ost- und einer an der Westseite. An jeder dieser beiden Thüren stellen sich zwei Schriftführer auf. Auf ein vom Präsidenten mit der Glocke gegebenes Zeichen treten diejenigen Mitglieder welche mit „Ja“ stimmen wollen, durch die Thür an der Ostseite, rechts vom Büreau, diejenigen, welche mit „Nein“ stimmen wollen, durch die Thür an der Westseite, links vom Büreau, in den Saal ein. Die an jeder der beiden Thüren stehenden zwei Schriftführer zählen laut die eintretenden Mitglieder. Demnächst gibt der Präsident ein Zeichen mit der Glocke, schließt das Skrutinium und läßt die Thüren des Saals öffnen. Jede nachträgliche Stimmabgabe ist ausgeschlossen; nur der Präsident und die dienstthuenden Schriftführer geben ihre Stimmen nachträglich öffentlich ab. Der Präsident verkündigt das Resultat der Zählung. Auf namentliche Abstimmung kann beim Schluß der Beratung vor der Aufforderung zur Abstimmung angetragen werden, der Antrag muß von wenigstens 50 Mitgliedern unterstützt werden. Der Präsident erklärt die Abstimmung für geschlossen, nachdem der namentliche Aufruf sämtlicher Mitglieder des Reichstags erfolgt und nach Beendigung desselben durch Rekapitulation des Alphabets Gelegenheit zur nachträglichen Abgabe der Stimme gegeben ist. Bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen hat jedes Mitglied des Reichstags das Recht, seine von dem Beschluß der Mehrheit abweichende Abstimmung kurz motiviert schriftlich dem Büreau zu übergeben und deren Aufnahme in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung in dem Reichstag, zu verlangen.

VI. Petitionen.

Da die Zahl der an den Reichstag gelangenden Petitionen eine sehr große, und da nur ein geringer Teil derselben zu Verhandlung im Plenum geeignet ist, so besteht die Vorschrift, daß alle Petitionen zunächst an die Petitionskommission gehen; auch können Petitionen, welche mit einem Gegenstand in Verbindung stehen, welcher bereits an eine andre Kommission verwiesen ist, dieser letztern durch Verfügung des Präsidenten überwiesen werden. Der Inhalt der eingehenden Petitionen ist von der Kommission allwöchentlich durch eine in tabellarischer Form zu fertigende Zusammenstellung zur Kenntnis der einzelnen Mitglieder des Reichstags zu bringen. In der Plenarsitzung des Reichstags gelangen alsdann nur diejenigen Petitionen zur Erörterung, bei welchen dies von der Kommission oder von 15 Mitgliedern des Reichstags ausdrücklich beantragt wird.

VII. Interpellationen und Adressen.

Interpellationen an den Bundesrat müssen, bestimmt formuliert und von 30 Mitgliedern unterzeichnet, dem Präsidenten des Reichstags überreicht werden. Dieser teilt sie dem Reichskanzler abschriftlich mit und fordert denselben oder seinen jeweiligen Vertreter in der nächsten Sitzung des Reichstags zur Erklärung darüber auf, ob und wann er die Interpellation beantworten wolle. Erklärt sich der Reichskanzler zur Beantwortung alsbald oder in einer andern Sitzung bereit, so wird alsdann zunächst der Interpellant, d. h. derjenige, von welchem die Interpellation ausgeht, zum Wort und zu einer nähern Ausführung derselben zugelasen. Hierauf folgt die Beantwortung vom Tisch des Bundesrats aus, und an diese oder an eine etwanige Ablehnung der Interpellation kann sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes der letztern anschließen, wenn mindestens 50 Mitglieder des Hauses darauf antragen. Was die Adressen anbetrifft, so sind Adressen an den Bundesrat zwar prinzipiell nicht ausgeschlossen; üblich sind aber nur Adressen an den Kaiser, und nur von solchen handelt die Geschäftsordnung. Wird die Vorberatung einer solchen Adresse einer Kommission übertragen, so wird diese aus dem Präsidenten des Reichstags als Vorsitzendem und aus 21 Mitgliedern des letztern zusammengesetzt. Ebenso ist der Präsident jedesmal Mitglied und alleiniger Wortführer der Deputation, welche die Adresse überreichen soll. Die Zahl der übrigen Mitglieder wird auf Vorschlag des Präsidenten vom Reichstag festgestellt; die einzelnen Mitglieder werden durch das Los bestimmt.




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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 13. Bibliographisches Institut, Leipzig 1889, Seite 688b. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b13_s0688b.jpg&oldid=- (Version vom 2.6.2022)