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Seite:Meyers b16 s0275.jpg

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16

Volkswirtschaftsrat, ein durch Verordnung vom 17. Nov. 1880 für Preußen geschaffenes, dem ältern französischen Conseil supérieur du commerce et de l’industrie (Oberhandelsrat, volkswirtschaftlicher Senat) teilweise nachgebildetes Kollegium von Sachverständigen und Interessenten, dessen Aufgabe es ist, Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen, welche wichtigere wirtschaftliche Interessen von Handel, Gewerbe, Land- und Forstwirtschaft berühren, sowie hierauf abzielende Anträge Preußens mit beratender Stimme zu begutachten. Der V. besteht aus 75 für je fünf Jahre zu berufenden Mitgliedern. Von diesen sind 45 durch die Regierung auf Grund der Präsentation einer doppelten Anzahl durch Wahl der Handelskammern, der Vorstände der kaufmännischen Korporationen und der landwirtschaftlichen Vereine und zwar je 15 Vertreter des Gewerbes, 15 des Handels und 15 der Land- und Forstwirtschaft, außerdem aber nach freier Wahl der Minister noch 30 Mitglieder, unter denen mindestens 15 dem Handwerker- und dem Arbeiterstand angehören, zur Berufung in den V. vorzuschlagen. Die Absicht der Regierung, den V. in einen deutschen zu erweitern, scheiterte an dem Widerstand des Reichstags, welcher die Bewilligung der hierfür erforderlichen Mittel (Diäten) ablehnte.

Volkszählungen, zum Unterschied von der mittelbaren Erforschung des Standes der Bevölkerung durch Schätzung und Berechnung (vgl. Bevölkerung, S. 851) die unmittelbare Auszählung aller Glieder einer vorhandenen Bevölkerung. Solche Zählungen sind schon im Altertum veranstaltet worden, so in Ägypten unter Amasis 500 v. Chr., dann in Israel unter dem König David; doch beschränkte man sich damals nur auf die Ermittelung der waffenfähigen Mannschaft. In Rom war unter Augustus eine umfassende Zählung angeordnet worden. Im Mittelalter kommen Zählungen der Bevölkerung eines Landes nicht vor, während seit Beginn des 15. Jahrh. in verschiedenen Städten gelegentliche Auszählungen veranstaltet wurden. Für Ermittelung der Bevölkerung der damaligen Zeit können heute neben den freilich mangel- und lückenhaften Kirchenbüchern nur noch mittelbare Anhaltspunkte benutzt werden. Erst mit dem 18. Jahrh. werden in einigen größern Ländern Zählungen mit nachträglichen Revisionen an der Hand der Zivilstandsregister ausgeführt. So fanden in Schweden schon seit 1748 umfassende Aufnahmen statt, und 1749 wurde für den Zweck der V. eine eigne Tabellenkommission ins Leben gerufen. Regelmäßig wiederkehrende Zählungen finden statt in den Vereinigten Staaten von Nordamerika seit 1790, in England seit 1800, Frankreich seit 1801, Preußen seit 1816 (Zollverein seit 1834), Holland seit 1819, Sardinien seit 1838, Schweiz seit 1841, Belgien seit 1846. Zu unterscheiden sind: a) die faktische (thatsächliche) oder ortsanwesende Bevölkerung, b) die Wohnbevölkerung, c) die einheimische oder rechtliche Bevölkerung. „Unter der faktischen Bevölkerung ist die Summe jener Personen zu verstehen, welche am Zählungsort zur Zeit der Zählung anwesend waren. Unter der Wohnbevölkerung begreift man jene Personen, welche im Zählungsort gewöhnlich verweilen, also die faktische Bevölkerung mit Hinzurechnung der zur Zeit der Zählung nur vorübergehend Abwesenden und Abrechnung der nur vorübergehend Anwesenden. Unter der einheimischen Bevölkerung wird jene verstanden, welche im Zählungsort das Heimatsrecht, die Zuständigkeit besitzt, soweit eine solche neben der Staatsbürgerschaft überhaupt gesetzlich besteht.“ Die Kenntnis jeder dieser Arten der Bevölkerung hat für bestimmte Zwecke ihre Bedeutung, so die rechtliche für Wehrpflicht und Einkommensteuer, die Wohnbevölkerung für indirekte Besteuerung, Zollabrechnungen in Zollvereinsstaaten (Zollabrechnungsbevölkerung), die thatsächliche Bevölkerung für die allgemeine Kontrolle. Der statistische Kongreß zu Petersburg stellte die Forderung auf, es sollten die Erhebungen, deren Nachweis kein Kulturstaat unterlassen dürfe, umfassen: a) Vor- und Zunamen, b) Geschlecht, c) Alter, d) Verhältnis zum Haupte der Familie oder des Haushalts, e) Zivilstand, f) Beruf oder Beschäftigung, g) Religionsbekenntnis, h) im gewöhnlichen Verkehr gesprochene Sprache, i) Kenntnis des Lesens u. Schreibens, j) Herkunft, Geburtsort und Staatsangehörigkeit, k) Wohnort und Art des Aufenthalts am Zählungstag (ob dauernd oder vorübergehend anwesend, resp. abwesend), l) Blindheit, Taubstummheit, Blödsinn und Kretinismus, Geisteskrankheit. Alle übrigen Erhebungen sollten je nach gegebenen besondern Bedürfnissen angestellt werden. Aus praktischen Gründen dürfen nicht zu viele Fragen gestellt und dieselben nicht auf solche Gegenstände erstreckt werden, bei denen die Beantwortung mit Zweifeln zu kämpfen hat oder ein zu tiefes Eindringen in Familienverhältnisse erforderlich wäre. Als Zeit der V. sollte eine solche gewählt werden, zu welcher der größte Teil der Bevölkerung sich zu Hause aufhält. Meist hat man einen Tag des Monats Dezember gewählt. Wünschenswert ist eine häufige Wiederholung der V.; doch nötigt der hohe für dieselben erforderliche Kostenaufwand zu Beschränkungen. Wenigstens sollten die Zählungen einmal innerhalb eines Jahrzehnts und zwar in den Jahren vorgenommen werden, deren Endzahl die Zahl zehn oder deren Vielfaches ist. Es zählten seither alle zehn Jahre: Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Norwegen (am 1., bez. 31. Dez.), Großbritannien (am 3. April) nebst den britischen Kolonien und die Vereinigten Staaten von Nordamerika (1. Juni); das Deutsche Reich (früher alle drei Jahre), Schweden und Frankreich dagegen alle fünf Jahre. Die Durchführung der V. kann entweder durch die Verwaltung erfolgen, welche zu dem Zweck eigne Agenten bestellt (so in Belgien, Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten von Nordamerika), oder man stützt sich auf die ausgedehnteste Mithilfe der Bewohner selbst, welchen man die Ausfüllung der Erhebungsformulare überläßt, und wobei sich die Verwaltung auf die Kontrolle durch die Zählungskommission beschränkt (so im Deutschen Reich und in den größern Ortschaften von Österreich). Verwandt werden in der neuern Zeit mehr und mehr die Zählkarten (bulletins individuels), d. h. Formulare, welche je eine Person umfassen, die strengste Individualisierung, sowie Einfachheit in der Fragestellung und in der Beantwortung ermöglichen. Die Haus- oder Haushaltungslisten (bulletins de menage), welche noch meist angewandt werden, bilden dagegen in ihrer Zusammensetzung eine Gewähr für gewisse gegenseitige Kontrollen, doch können letztere dadurch geboten werden, daß die Karten durch Verzeichnisse ergänzt werden, welche die Haushaltungslisten ersetzen und über das Verhältnis der Familie oder des Haushalts Aufschluß geben. Die Verarbeitung (Aufbereitung) des Urmaterials erfolgt in einigen Ländern durch die politische oder geistliche Verwaltung (so in Österreich, Frankreich, Schweden, Schweiz, Niederlande), in andern Ländern (Deutsches Reich, Ungarn, Italien, Belgien, Großbritannien) durch sachkundige Organe von wohlorganisierten statistischen Büreaus. Vgl. E. Engel, Die Methoden

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 16. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b16_s0275.jpg&oldid=- (Version vom 4.12.2024)