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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17

daß sie den Vorfahren der heutigen Träger nützlich gewesen sind und darin heute noch ihre Existenzberechtigung finden, und die Entstehung wieder anderer Eigenschaften läßt sich vielleicht durch den uns noch ganz dunkeln Vorgang der Korrelation der Organe erklären, der darin besteht, daß die Entstehung und Weiterentwickelung eines Organs die Bildung eines ganz andern, mit ihm sonst gar nicht im Zusammenhang stehenden Organs nach sich zieht. Diese letztere Annahme erklärt speziell die Entstehung schädlicher Eigenschaften, die dann durch die nützlicher andrer, mit ihnen in Wechselbeziehung stehender, aufgehoben werden. Für eine Reihe andrer Eigenschaften aber genügen diese Erklärungen nicht. So ist es unzweifelhaft, daß auch direkt schädliche Eigenschaften zur Ausbildung gelangen können und sich in einer Weise weiter entwickeln, daß sie den Untergang des ganzen Geschlechts nach sich ziehen. So führt Döderlein aus der Stammesgeschichte der Säugetiere einige Fälle an, wo als Endglieder einer längern Entwickelungsreihe Formen auftreten, bei denen ein bestimmtes Organ sich extrem entwickelt hat und wahrscheinlich zum Erlöschen der Form mit beitrug, so die Größe und Form der Zähne beim säbelzahnigen Tiger (Smilodon neogaeus) und die riesenhafte Ausdehnung des Geweihes beim Riesenhirsch (Cervus dicranius). Döderlein erklärt diese Fälle durch die Annahme einer erblich werdenden Tendenz, nach einer bestimmten, ursprünglich nützlichen Richtung hin zu variieren, wobei jedoch im Verlauf der Entwickelung das Maximum der Nützlichkeit für den Organismus überschritten wird. Er hält demnach für das Wesentliche bei der Vererbung nicht etwa die „Erreichung eines bestimmten Entwickelungszustandes“, sondern die „Bestimmung der Entwickelungsrichtung“. Neben diesen direkt schädlichen Eigenschaften gibt es dann noch eine weitere Anzahl, die uns völlig bedeutungslos für den Organismus scheinen, und bei denen wir das Entstehen und besonders die Regelmäßigkeit bei ihrer Entstehung nach den angeführten Theorien nicht zu erklären vermögen; hierher gehört beispielsweise eben die Zeichnung im Tierreich. Eimer geht aber weiter und weist darauf hin, daß die vorerwähnten Darwinschen Theorien überhaupt bei keiner Eigenschaft die erste Entstehung derselben zu erklären vermögen und die Frage nach den Ursachen des Abänderns ganz offen lassen. Er betont besonders, wie oft der Fehler gemacht wird, daß die auf dem Nutzen beruhende Auslese als die selbstthätige Kraft behandelt wird, welche die Veränderungen der Eigenschaften selbst hervorbringt, während sie nach seiner Ansicht nur die Steigerung und das Herrschendwerden, nicht aber das Entstehen dieser Eigenschaften erklären kann. Den Grund der Entstehung der Abänderungen findet Eimer in „konstitutionellen Ursachen“. Nach seiner Auffassung „sind die physikalischen und chemischen Veränderungen, welche die Organismen während des Lebens durch die Einwirkung der Umgebung, durch Licht oder Lichtmangel, Luft, Wärme, Kälte, Wasser, Feuchtigkeit, Nahrung etc. erfahren, und welche sie vererben, die ersten Mittel zur Gestaltung und Mannigfaltigkeit der Organismenwelt und zur Entstehung der Arten. Aus dem so gebildeten Material macht der Kampf ums Dasein seine Auslese.“ Es beruht also die organische Formgestaltung auf physikalisch-chemischen Vorgängen; aus diesem Grund ist sie aber ebenso wie die Form der anorganischen Kristalle eine bestimmte und wird auch bei der Neubildung nur einzelne bestimmte Richtungen einschlagen können. Die Entstehung der Neubildungen und damit der Arten unterliegt zugleich denselben Gesetzen wie einfaches Wachstum; „sie ist die Folge unendlichen, unter veränderten Bedingungen stattfindenden ungleichartigen Wachstums der Organismenwelt unter Voraussetzung der bleibenden Trennung ungleichartiger Glieder der wachsenden Kette dieser Organismenwelt; Fortpflanzung und individuelle Entwickelung beruhen gleicherweise auf den Gesetzen des Wachsens“. Für die Ausbildung der Abänderungen zu Arten, für die Artentrennung, sieht Eimer die wesentlichste Ursache in dem von ihm Genepistase genannten Vorgang, d. h. in dem Stehenbleiben einer Anzahl von Individuen auf einer bestimmten niedrigern Stufe der Umbildung, während die übrigen in derselben weiter fortschreiten. Hierzu kommen weitere, schon bekannte Ursachen, die die Verschiedenheit der Entwickelungsrichtung bestimmen und die Trennung in Arten verursachen, so räumliche Isolierung, unmittelbare äußere Einwirkung, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, der Kampf ums Dasein, die sprungweise Entwickelung durch Korrelation, „konservative Anpassung“, d. h. Einfluß einer ununterbrochenen Fortdauer derselben Einwirkungen auf einen Organismus, und endlich geschlechtliche Fortpflanzung, welche an und für sich zur Bildung ganz neuer stofflicher Zusammenfügungen, d. h. zur Bildung neuer Formen, führen kann.

Speziell mit der Frage nach der Trennung in Arten hat sich schließlich auch Romanes in seiner Theorie der „physiologischen Selektion“ beschäftigt. Der englische Forscher geht von dem der Darwinschen Theorie gemachten Einwurf aus, daß neuentstandene Variationen, sie mögen noch so nützlich sein, durch die Kreuzung mit den andern Tieren immer mehr verwischt werden, bis sie endlich ganz verschwinden. Diesen Einwand sucht Romanes mit der Behauptung zu widerlegen, daß mit dem Auftreten einer Variation sich zugleich Sterilität der neu variierten Tiere mit den übrigen einstellt, und gibt hiermit zugleich eine Erklärung für die gegenseitige Unfruchtbarkeit der natürlichen Arten. Die Sterilität kann primär oder sekundär sein. Der Fortpflanzungsapparat ist bekanntermaßen sehr zu Variationen geneigt, und es ist daher wohl anzunehmen, daß einmal bei einer Anzahl von Individuen eine Variation entsteht, welche die Sterilität gegenüber der Hauptart bedingt, gegenseitige Befruchtung der Abart aber zuläßt. Hierdurch ist eine neue Art geschaffen und in ihrer Existenz geschützt, und durch unabhängige Variabilität kommen weitere spezifische Abänderungen hinzu, die die Art von der Mutterart sich immer weiter entfernen lassen. Umgekehrt mag die Sterilität auch sekundär sein und indirekt durch vorher auftretende Unterschiede hervorgerufen werden. Jedenfalls haben unter allen auftretenden Abänderungen diejenigen am meisten Aussicht auf Erhaltung, welche zugleich eine bestimmte Unfruchtbarkeit im Gefolge haben. Denn diese „physiologische Zuchtwahl“ errichtet zwischen der alten und der neuentstandenen Art einen Grenzwall, der ebenso unüberwindbar ist wie eine in Höhenzügen oder in Meeresteilen bestehende geographische Barriere. Indem so zur Entstehung neuer Arten keine räumliche Isolierung oder Wanderungen zu Hilfe genommen zu werden brauchen, erklärt sich auch auf diese Weise die Existenz nahe verwandter Arten in dem gleichen Verbreitungsbezirk. Die Unfruchtbarkeit der Varietät gegenüber der Mutterspezies besteht des öftern nicht in einer Variation des Geschlechtsapparats, in einer wirklichen Sterilität, sondern in Verlegung der beiderseitigen Befruchtungsperioden, so der Blütezeit bei den Pflanzen und der Paarungszeit bei den Tieren.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 17. Bibliographisches Institut, Leipzig 1890, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b17_s0214.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2022)