verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18 | |
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Erst in jüngster Zeit ist infolge der Fortschritte der Sozialwissenschaften im allgemeinen und der Statistik im besondern ihre Stellung als besonderes Wissenschaftsgebiet zur Geltung und Anerkennung gekommen. Damit ergab sich gleichzeitig auch die Möglichkeit und Notwendigkeit einer geschichtlichen Erforschung und Betrachtung der durch die Bevölkerungswissenschaft der Kenntnis vermittelten gesellschaftlichen Erscheinungen, d. h. die B. Eine solche gehört jedoch erst der allerjüngsten Zeit an, und ihre Resultate sind daher bis jetzt nur Stückwerk. Dies darf nicht wundernehmen, da ja doch die ungleich ältere und mehr gepflegte Wirtschaftsgeschichte, welche überdies mit der B. auf das engste zusammenhängt, bis heute auch nur Stückwerk geblieben ist. Dennoch aber ist es interessant und wertvoll, die bisherigen Resultate der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zusammenzufassen, da deren Bedeutung in der That eine sehr große ist. Es bietet ja an sich schon einen eignen Reiz, die Zahlenverhältnisse des Menschengeschlechts, der einzelnen Völker, welche im Verlauf der Zeit eine Rolle gespielt haben, und der einzelnen Gesellschaftsklassen zu verfolgen und im ursachlichen Zusammenhang zu erkennen. Man kann wohl sagen, daß hierüber höchst abenteuerliche und völlig ungerechtfertigte Vorstellungen bestehen, mit denen die Wissenschaft noch immer im Kampf steht, ohne im stande gewesen zu sein, sie auszurotten. Dann aber bedenke man, welchen Wert die B. für die allgemeine geschichtliche Forschung überhaupt besitzt. Keine geschichtliche Darstellung ist im stande, sich ziffermäßiger Angabe über Größe und Stärke der Volksstämme, der Gesellschaftsklassen, der Kriegsheere zu Land und zu Wasser, der Kolonien u. dgl. zu entschlagen. Die vorwiegend politisch-geschichtlichen, dann aber auch die kulturgeschichtlichen Nachrichten der sogen. Weltgeschichte erlangen erst durch einen dergestaltigen plastischen Hintergrund ihre wahre Bedeutung. Und zwar liegt der Wert der B. für die sogen. Weltgeschichte nicht nur darin, daß die Darstellung ungemein an Anschaulichkeit gewinnt, sondern auch darin, daß die Aufhellung der Thatsachenzusammenhänge nicht selten von der Erkenntnis quantitativer Verhältnisse geradezu abhängig ist. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die kulturgeschichtliche Forschung und zwar vornehmlich für die Erforschung der klassischen Zeit und des mittelalterlichen Lebens. Je wichtiger der Klassizismus der griechisch-römischen Welt für die Ausgestaltung des heutigen Geistes- und Völkerlebens überhaupt zu bezeichnen ist, desto notwendiger ist es, diese Epochen der Geschichte der Menschheit auch auf gegründete Zahlenverhältnisse zu fundieren. Dazu kommt dann noch ein weiteres Moment. Die Methode der Bevölkerungslehre ist nahezu ausschließlich die statistische Induktion. Die Erkenntnis der einschlägigen Phänomene wird nun um so vollkommener, je mehr wir im stande sind, dieselben nicht nur in der Gegenwart, sondern auch im geschichtlichen Verlauf unter den verschiedenartigsten Darstellungsformen zu betrachten. Die wichtigen Probleme des Sexualverhältnisses der Gebornen und in der Bevölkerung, des Altersaufbaues und der Absterbeordnung, der Wanderungen etc. bieten in geschichtlicher Form ganz neue Gesichtspunkte dar, welche die durch die Betrachtung zeitgenössischer Vorgänge vermittelte Erkenntnis wesentlich ergänzen. Nicht zum wenigsten gilt dies bezüglich der enorm wichtigen Frage des sogen. Bevölkerungsgesetzes.
Im 17. und 18. Jahrh. war die Bevölkerung der europäischen Staaten im allgemeinen eine sehr dünne, und es entwickelte sich demgemäß eine Richtung in der Bevölkerungslehre, jene der Populationisten (Süßmilch, Sonnenfels, Justi etc.), welche die Hebung der Volkszahl als Aufgabe der Staatsverwaltung hinstellten und zahlreiche konkrete Maßnahmen hierfür empfahlen, unter welchen die Kolonisation nicht an letzter Stelle zu nennen ist. Im Gegensatz dazu entwickelte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in England Malthus seine Ansichten über das Bevölkerungsgesetz, welche auf das gerade Gegenteil hinausliefen und von der Anschauung einer bereits gegenwärtig bestehenden oder doch in Zukunft zu erwartenden Übervölkerung getragen wurden. Die Ereignisse der auf Malthus folgenden Zeit gaben ihm scheinbar recht, indem mit dem allgemeinen Aufschwung der Industrie und der Verdichtung des Verkehrs eine außerordentlich starke Bevölkerungszunahme erfolgte. Im Zusammenhang damit sehen wir in der Bevölkerungslehre Richtungen vertreten, welche auf Abhilfe dieser Übervölkerung hindrängen. Dazu gehört die vornehmlich im Deutschen Reich vertretene kolonialpolitische Richtung, dann aber der sogen. Neomalthusianismus (vertreten von Stille u. a.). Diese letztgenannte Richtung will die rasche Vermehrung der Völker durch Maßregeln hindern, welche eine verminderte Fruchtbarkeit des weiblichen Geschlechts zur Folge haben sollen. Dabei kann man sagen, daß im allgemeinen über die Zukunft des Menschengeschlechts vom Standpunkte des Verhältnisses zum Nahrungsspielraum ziemlich trübe Ansichten verbreitet sind, über welche man sich allerdings nur selten genaue Rechenschaft abgibt.
Zur nüchternen und eigentlich wissenschaftlichen Beurteilung des Bevölkerungsgesetzes, d. h. des Verhältnisses der Volkszahl zum Nahrungsspielraum im Verlauf der Entwickelung der Völker, ist es nun durchaus nicht genügend, nur die gegenwärtigen oder jüngstvergangenen Verhältnisse zur Untersuchung heranzuziehen; es ist vielmehr erforderlich, den Blick historisch zu erweitern und zur B. zu greifen, soweit dieselbe überhaupt Nachrichten zu geben vermag. Dabei gelangen wir dann zur Einsicht, daß es nicht angeht, von einem allgemeinen Gesetz der zahlenmäßigen Entwickelung des Menschengeschlechts im allgemeinen zu sprechen, sondern daß eine solche Regelmäßigkeit nur betreffs einzelner Völker angenommen werden darf. Hiermit aber stehen wir vor einer für jedes Volk sehr wichtigen Kenntnis. Indem wir im großen und ganzen der geschichtlichen Entwickelung die Völker in die Geschichte eintreten, sich entwickeln, absterben oder sich erneuern und ununterbrochen weiter bestehen sehen, erkennen wir auch die Stellung, welche ein jedes konkrete Volk in seinem historischen Entwickelungsgang im gegenwärtigen Moment einnimmt. Diese Erkenntnis ist aber wichtig, um den steten Rivalitätskampf zu verfolgen, welchen die Staaten im Verlauf der Zeit führen. Die zeitweise Hegemonie Griechenlands, dann Roms, der stete Rückgang der politischen Macht Frankreichs, das Anwachsen der politischen und ökonomischen Bedeutung der Vereinigten Staaten Nordamerikas, all diese Erscheinungen finden eine sehr natürliche Auflösung bis in die letzten Ursachen durch das Zurückgehen auf die populationistischen Veränderungen dieser Völker. Somit unterliegt es keinem Zweifel, daß die B. von hohem Interesse und hoher Bedeutung ist, und daß eine Zusammenfassung ihrer Resultate selbst jetzt schon wertvoll genannt werden kann, wo diese letztern noch als sehr lückenhaft hinzustellen sind.
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 18. Bibliographisches Institut, Leipzig 1891, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b18_s0123.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2024)