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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19

mehr, bis es endlich bei Vergil zu einer großen Stadt mit Palästen, Tempeln, weiten Gassen, hohen Türmen wurde. Als man nun später bei Beginn historischer Forschung Troja zu suchen begann, machte gerade dieser Umstand irre, daß eine so große und zugleich so alte Stadt in der deutlich bezeichneten Gegend sich nicht finden ließ. Man glaubte zeitweilig sogar, daß ein Troja in Wirklichkeit nie existiert hätte, und löste die gesamten Kämpfe um die Mauern der alten Burg in mythologischen Dunst und Nebel auf, indem man sie als einen Streit zwischen Sonnenglut und Wassermassen zu deuten suchte. Anfangs der 70er Jahre schwankte man über die Stelle, wo Troja zu suchen sei, und das Urteil neigte sich überwiegend einem bedeutend mehr landeinwärts gelegenen Felsen, Bunarbaschi, zu. Daß wir heute genauer Bescheid wissen, ist das bleibende Verdienst Heinrich Schliemanns.

Schliemanns Ausgrabungen.

Der gelehrten Schulbildung bar, den Streitfragen der Professoren fernstehend, ging Schliemann mit der gläubigen Naivität eines Kindes an die Lektüre der Alten, und wenn die Gelehrten zu wenig davon glaubten, so nahm er zwar zu viel an, aber er fand doch dasjenige, was die Gelehrsamkeit verloren hatte: den faktischen Kern von Wirklichkeit, wenigstens in topographischer Hinsicht, welchen die alten Sagen umkleideten. Mit seinem scharfen Blicke für das Thatsächliche entschied er sich auf einer Orientierungsreise 1868 sofort für Hissarlik und beschloß, dort zu graben. Leider machten sich bei diesen Ausgrabungen bald die Schattenseiten seiner Autodidaktenbildung geltend. Der Hissarlikhügel ist nicht ein völlig natürliches Produkt, sondern einem Schutthaufen zu vergleichen. In den vielen Kämpfen, welche um die alte Burg geführt wurden, ward sie nicht nur einmal, sondern mehrmals zerstört; auf der Trümmerstätte wurde wieder eine neue Niederlassung erbaut, ja, in der bedeutendsten Periode fanden sowohl in betreff der Stadtmauern als auch der einzelnen Gebäude zahlreiche Umbauten statt, so daß sich der Hügel immer mehr erhöhte, gerade so, nur noch schneller, als in einer großen Stadt das Pflaster. Bei den zahlreichen Um- und Neubauten ließ man die alten Fundamentmauern stehen, füllte die Zwischenräume mit Schutt und baute auf dem neu geschaffenen Planum. Dadurch wurde sowohl die Höhe als auch der Umfang des Hügels immer größer. Auch scheint der Ort im ganzen Altertum nicht verlassen worden zu sein, wie denn auch der Name Ilion, soweit wir verfolgen können, an der Stelle haften blieb. Dem alten Ilion war sogar eine neue Blüte beschieden, als einer der Nachfolger Alexanders d. G., Lysimachos, sich im J. 301 des vordern Kleinasien bemächtigte. Er erbaute auf der alten Stelle eine neue Burg und legte auf dem anstoßenden Plateau eine Stadt an, welche eine Ringmauer von 40 Stadien (ca. 7–8 km) umschlossen haben soll.

Auf die Reste dieser alten Stadt, welche deutlich sichtbar zu Tage lagen, stieß Schliemann zuerst; aber da es ihm nicht um das Ilion der makedonischen Zeit, sondern um das des Homer zu thun war, trug er ohne Bedenken die Trümmer ab und grub durch den ganzen Hügel einen breiten Graben von N. nach S. Wir haben allmählich gelernt, wie im Sinne geschichtlicher Forschung eine Ausgrabung geleitet werden muß. Die geschichtliche Betrachtung sucht nicht nur nach einer Periode, sondern betrachtet alle übereinander liegenden Schichten einer Kultur mit gleicher Aufmerksamkeit. Wer also eine menschliche Niederlassung oder auch eine geologische Schichtung, die sich im Laufe der Zeit allmählich erhöht hat, wissenschaftlich ausgraben will, muß gerade umgekehrt verfahren, wie die Geschichte oder die schaffende Natur. Wo diese aufhörte, muß er anfangen. Eine solche Grabung also muß jede einzelne Schicht horizontal abtragen, geometrisch ihren Plan und womöglich zeichnerisch ihre Ansicht aufnehmen. Dann erst darf die Schicht zerstört und die nächstuntere in Angriff genommen werden. Hätte Schliemann diese Methode gekannt, so würde er sich und andern viele unnütze Mühe, Verdruß und Ärger erspart haben, und wir würden über manche Dinge genauer Bescheid wissen, die wir nur noch erraten können oder als völlig verloren ansehen müssen. Es kommt hinzu, daß gerade die lebhafte Phantasie, welche ihn zu seiner Unternehmung begeisterte, sein Beobachtungsvermögen trübte. Er war wissenschaftlich durchaus ehrlich und wollte nichts falsch darstellen; aber er benannte seine Funde sofort mit den bestimmtesten Namen, und eine ärmliche Hütte erschien seiner Begeisterung als der Palast des Priamos. So kommt es, daß seine ersten Ausgrabungsberichte fast nicht zu brauchen sind, zumal da er keine Pläne und Zeichnungen aufnahm. Wir verfolgen die einzelnen Ausgrabungskampagnen nicht im einzelnen und heben nur hervor, daß Schliemann in seinem ersten Eifer die ganze Nordseite der Burgmauer, die er für wertloses Getrümmer hielt, abreißen ließ, so daß die nördliche Ausdehnung der Burg heute nicht mehr genau festgestellt werden kann. Seine Berichte wurden besser, je mehr er sich auf das eigentliche Ausgraben beschränkte und die Beschreibung und wissenschaftliche Verarbeitung andern überließ. So machte Burnouf den ersten Plan der dritten Niederlassung, Virchow besuchte seine Ausgrabungen und führte ihn dadurch in die Gelehrtenwelt ein, doch hatte auch er für architektonische Dinge, um welche es sich namentlich handelte, kein Verständnis; völlig brauchbar werden die Ausgrabungsberichte erst, als Schliemann den Architckten Dörpfeld, bekannt und wohlgeschult von der olympischen Ausgrabung her, zum technischen Beirat mit sich nahm. Ihm verdanken wir den ersten guten Plan der Burg (Fig. 1, S. 926). Außer in vorläufigen Schriften stellte Schliemann die Resultate seiner Grabungen in drei wichtigen Büchern dar: 1) „Ilios, Stadt und Land der Trojaner“ (Leipz. 1881, noch ohne Dörpfelds Mitarbeit); 2) „Troja“ (das. 1884, unter Dörpfelds Mithilfe, jedoch so, daß Schliemann noch mit Hilfe der Dörpfeldschen Beobachtungen selbst den Text schrieb und dadurch manche Unklarheit hineinbrachte); 3) das kleinste und beste, welches nach seinem Tode erschien: „Schliemann, Bericht über die Ausgrabungen in Troja im J. 1890, mit Beiträgen von Dörpfeld“ (1891). Hier endlich gibt im zweiten Teile Dörpfeld allein eine Beschreibung des Thatbestandes.

Der Nekropolenstreit.

Eine Folge dieser sehr allmählichen Verbesserung der Schliemannschen Berichte war es, daß ihm zunächst nur Achselzucken bei den Gelehrten begegnete. Erst die mykenischen Ausgrabungen mit ihren ungeahnten Erfolgen zwangen auch die Mißgünstigen zur Beachtung; jene Ungenauigkeit der Berichte erweckte ihm aber auch einen Gegner, welcher ihm sein geliebtes Troja, die Burg des Priamos und Hektors in einen Schutthaufen verwandeln wollte, welcher seine Entstehung der allmählichen Aufhäufung der Brandasche von Tausenden von Leichenverbrennungen verdankte: den Hauptmann Bötticher, welcher in vielen Zeitungsartikeln und zwei Büchern: „La Troie de Schliemann, une nécropole à incinération à la manière

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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 19. Bibliographisches Institut, Leipzig 1892, Seite 925. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b19_s0939.jpg&oldid=- (Version vom 27.5.2023)