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verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 8

die Ehe stiftend und behütend, in ehelichem Zerwürfnis aber finster, furchtbar, verderblich. In der „Ilias“ werden Argos, Mykenä und Sparta ihre liebsten Städte genannt; Argos heißt bei Pindar das „gottgeziemende Haus der H.“, sie war die Schutzgöttin des Ortes, alle fünf Jahre wurden ihr hier die Heräen (s. d.) mit Wettspielen gefeiert; ihr Haupttempel mit der von Polyklet gefertigten Statue lag zwischen Argos und Mykenä (s. Heräon). Aber auch in der Nachbarschaft von Argos blühte früh ihr Kultus; außerdem wurde sie in alten Zeiten schon in Arkadien (zu Stymphalos und Mantineia), in Elis und Olympia, in Korinth, Corcyra, Platää, Sikyon, Kreta, in Kleinasien, in Karthago, besonders aber in Samos verehrt. Die Mehrzahl der Sagen bezieht sich auf ihr eheliches Verhältnis zu Zeus. Die Vermählung

Fig. 1. Kopf der Hera Farnese (Neapel).

desselben mit ihr ward auf der Insel Kreta unweit des Flusses Theron feierlich vollzogen. Der Kultus feierte diese Vermählung im Frühling als eine heilige Hochzeit und liebende Vereinigung der beiden großen Himmelsmächte, von denen alle Fruchtbarkeit der Erde abhängt. Die kosmogonische Dichtung weiß von dem segenströmenden Beilager des Zeus mit der H. in den seligen Gegenden des Okeanos zu erzählen, wo Ambrosia fließt, und wo die Erde den Baum des Lebens mit den goldenen Hesperidenäpfeln wachsen läßt. Nach Homer genoß Zeus ihre Umarmung schon vor der Vermählung ohne Vorwissen der Eltern; nach einem Scholiasten des Theokrit errang er die Geliebte mittels einer List. Mit ihrer Vermählung tritt H. in den Kreis der olympischen Götterfamilie ein, und so erscheint sie besonders in den Homerischen Gedichten. Als Königin des Olymps tritt sie vor uns, wenn die Götter ihr dieselbe Ehre wie dem Zeus erweisen, wenn der Olymp erzittert vor ihrem Zorn, wenn sie dem Helios befiehlt, den Tag früher zu enden, wenn sie des Donners und Blitzes sich bedient, über Sturm und Meer gebietet, Wolken und Regenbogen in ihrem Dienst hat etc. Zeus selbst ehrt sie als seine Gemahlin hoch und teilt ihr seine geheimen Ratschlüsse mit. Dieser ihrer hehren Stellung entspricht das Bild ihrer äußern Erscheinung. Ihr großes und glänzendes Auge („Kuhauge“), ihre lilienweißen Arme, ihr hoher Wuchs sind sprichwörtlich geworden, und ihre erzhallende Stimme ertönt wie die von 50 Männern zusammen. Wenn sie sich schmückt, badet sie den reizenden Leib in Ambrosia, legt sich das ambrosische, von Athene gefertigte, die ganze Gestalt verhüllende Gewand, das goldene Spangen unter dem Busen festhalten, dann den Gürtel, das strahlende Ohrgehänge, den leuchtenden Schleier und die goldenen Sandalen an. Sie sitzt auf goldenem Thron, wandelt in gewaltigen Luftschritten einher, wobei der Fuß den Boden nicht streift und die Waldhöhen erbeben. Fährt sie daher, so fliegen die göttlichen Rosse in mächtigen Sprüngen, deren Maß die Sehweite eines spähenden Mannes ist. Ihr glühender Zorn und Haß gegen Ilion, angefacht durch des Paris zurücksetzendes Urteil, macht sie zur leidenschaftlichen Bundesgenossin der Achäer. Ja, ihr Benehmen nimmt den Charakter der Falschheit

Fig. 2. Kopf der Hera Ludovisi (Rom, Villa Ludovisi).

an; argwöhnisch beobachtet sie des Zeus Schritte u. macht, wenn er ihren Wünschen nicht Folge leistet, ihrem Ärger durch unbändiges Gezänk Luft. Zu thätigem Widerstand fehlt ihr jedoch der Mut; droht er ihr, so lenkt sie alsbald ein. Dafür aber sucht sie andre zum offenen Widerstand heimlich anzureizen, und einmal macht sie sogar mit Poseidon u. der Athene den Anschlag, den Zeus zu fesseln, aus welcher Gefahr ihn Thetis durch Herbeirufen des hundertarmigen Briareos rettet. Zeus selbst fürchtet ihre schnelle Zunge: bald bringt er sie durch heftigen Zornausbruch zum Schweigen, bald begnügt er sich, ihr seine Überlegenheit auszudrücken; bald aber droht er ihr auch mit Schlägen, hat auch wohl schon die Geißel gegen sie gebraucht; ja, einmal, wegen der feindlichen Nachstellungen, die sie dem Herakles bereitet, hat er sie in dem Äther und den Wolken schwebend aufgehängt, die Hände mit goldener Fessel gebunden und an den Füßen zwei Ambosse, und nur durch einen schweren Meineid weiß sie sich vor einem gleichen Ausbruch seines Zorns zu schützen. Meist sucht sie durch List und auf heimlichen Wegen ihre Zwecke zu erreichen. Heimlich eilt sie mit Athene den Achäern zu Hilfe, heimlich regt sie auch den Achilleus zur Teilnahme am Kampf auf, und tückisch weiß sie die Troer durch Athene zum Bruch des geschlossenen Vertrags zu veranlassen. Am glänzendsten aber zeigt sie ihre List, als sie, des Zeus Schwachheit kennend, durch Liebeszauber ihn berückt, um seine Aufmerksamkeit vom Kampf abzuziehen, damit Poseidon den Achäern

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage, Band 8. Bibliographisches Institut, Leipzig 1887, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_b8_s0391.jpg&oldid=- (Version vom 2.8.2022)