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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen

zu Luciens einsamer Zelle aufschließen. Wir fanden sie vor einem Buche sitzen. Ich hätte sie freilich nicht wieder erkannt, so wenig als sie mich. Sie sah sehr blaß und leidend aus; ihre angenehmen Züge belebten sich mit einem flüchtigen Roth in sichtbar freudiger Ueberraschung, als ich ihr vorgestellt wurde. Allein sie sprach wenig, sehr behutsam und nur im Allgemeinen über ihre Lage, indem sie davon Anlaß nahm auf ihre christliche Lectüre überzugehen, von welcher sie viel Gutes rühmte.

Der Prediger fühlte eine Spannung, und entfernte sich bald. Wirklich wurde nun Lucie nach und nach freier, ich selber wurde wärmer, ihr Herz fing an, sich mir entgegen zu neigen. In einer Pause des Gesprächs, nachdem sie kurz zuvor dem eigentlichen Fragepunkt sehr nah gekommen war, sah sie mir freundlich, gleichsam lauschend, in die Augen, ergriff meine Hand und sagte: „Ich brauche den Rath eines Freundes; Gott hat Sie mir gesandt, Sie sollen Alles wissen! Was Sie dann sagen oder thun, will ich für gut annehmen.“

Wir setzten uns, und mit bewegter Stimme erzählte sie, was ich dem Leser hiermit nur im kürzesten Umriß und ohne eine Spur der schönen lebendigen Fülle ihrer eigenen Darstellung mittheilen kann.

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Eduard Mörike: Gesammelte Schriften. 2. Band: Erzählungen. G. J. Göschen, Stuttgart 1878, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Moerike_Schriften_2_(1878)_300.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)