Seite:OAB Oberndorf 259.jpg

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Die inmitten des Dorfes auf dem niedrig ummauerten Friedhof stehende Kirche winkt mit ihrem hohen und großartigen Thurme schon aus der Ferne dem Wanderer entgegen; sie ist dem heiligen Markus geweiht und ursprünglich angelegt als ein weites flachgedecktes romanisches Schiff mit mächtigem, unten gewölbtem Thurm im Osten. In den Jahren 1607 und 1608 wurde die Kirche in gothischem Geschmacke verändert, im Schiffe wurden statt der Rundbogenfensterchen spitzbogige eingebrochen, und dem Thurme die beiden obern Geschosse aufgesetzt; seine zwei untern spätromanischen Stockwerke zeigen schlichte, trefflich gefügte Buntsandsteinquaderflächen mit merkwürdigen lisenenartigen Strebepfeilern und schießschartenähnlichen Lichtöffnungen. Am Ende des zweiten Geschosses ragen an den vier Ecken vier große steinerne Wasserspeier, höchst alterthümliche Thiergestalten, heraus; von hier an geht der Thurm mit vier schwachgeneigten Dreiecksflächen in das Achteck über und trägt noch zwei hohe, mit je acht gothisch gefüllten Spitzbogenfenstern belebte Stockwerke, und darüber schließt sich eine schöne steile, an den acht Gräten mit Kriechblumen geschmückte Steinkuppel zusammen. In den Maßwerken der acht untern Fenster steht in jedem, als Theil davon, ein großer lateinischer Buchstabe, zusammen AVE MARIA; in den etwas verstümmelten oberen Fenstern steht in einer Füllung die Jahreszahl 1607, in einer andern das Zeichen des Baumeisters, in einer dritten ein R; ganz unten an der Ostseite des Thurmes sieht man in einen Stein 1608 eingemeißelt.

Dieser Thurm ist ein so seltenes, als anziehendes Denkmal von verspäteter gothischer Bauweise; man sieht, der in der Renaissancezeit lebende Baumeister ging mit Absicht auf den früheren Stil zurück, hat ihn aber, im Hinblick auf die herrschende Bauweise, vom altgothischen zwar abweichend, doch nicht ohne Geist und Schönheitsgefühl behandelt, wie die Ausgliederung der Maßwerke mit Buchstaben und vor allem die Kuppel beweist.

Das Schiff der Kirche brannten im Jahre 1704 die Franzosen aus; später wurde es gegen Westen verlängert, wahrscheinlich im Jahre 1762, diese Jahrszahl steht über dem westlichen Eingang; an der Nord- und Südseite erhielten sich noch der romanische Sockel, der sich auch um den Thurm zieht, sowie die Anfänge des alten großartigen Kranzgesimses; an den jetzt übertünchten Quaderflächen dieser beiden Langseiten des Schiffes zeigen sich dieselben romanischen Steinmetzzeichen, wie am Thurm (s. Schriften des Württ. Alterthums-Vereins, Heft VII. 1866. S. 39 ff.).

Die Maßwerke in den Spitzbogenfenstern der Kirche sind verschwunden.

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Oberndorf. H. Lindemann, Stuttgart 1868, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OAB_Oberndorf_259.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)