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Berichterstatter glücklich ausgedrückt hat, nüchtern und practisch. Eigentliche Sectirerei findet sich entweder gar nicht oder bleibt doch auf einige wenige Exemplare beschränkt. Dagegen fehlt es in vielen Gemeinden nicht an reger Theilnahme für das Missionswesen, sowie für den Gustav-Adolphverein. Für letzteren besitzt Wankheim einen soliden Hilfsfond in Form eines Baumguts. An kirchlichem Sinn fehlt es überhaupt nirgends, wohl aber, und jetzt kommen wir zu den Schattenseiten, an politischem Gemeinsinn, an regem Interesse für den Fortschritt in jedem Zweige menschlicher Thätigkeit, an geistigem Interesse überhaupt, vor Allem aber am Schönheitssinn, welcher, wo er sich offenbart, nur durch äußern Anstoß, wie dieß zumal in Lustnau neuestens in so reichlichem Maße der Fall war, geweckt werden konnte. Besonders im Argen liegt allerwärts, mit weniger Ausnahme die Reinlichkeit des Hauses, gegen welche sogar wirkliche Vorurtheile bestehen, als wäre die auf ihren Cultus verwendete Zeit und Mühe eitel Verschwendung und Hoffart. Auch der Sinn für geistweckende und bildende Lektüre schlummert noch tief; obwohl es auch hier nicht an Ausnahmen fehlt. So erfreut sich Gönningen seit Jahren eines wohlorganisirten Lesevereins und Kusterdingen, Kirchentellinsfurth, Dußlingen besitzen wenigstens einen Anfang von Volksbibliothek, wobei freilich Alles auf die Wahl der Schriften ankommt. Einen Lichtpunkt bildet andrerseits wieder der Sinn für veredelten Gesang, welcher in 14 Gesangvereinen auf dem Lande, die vier Vereine der Stadt gar nicht gezählt, seinen Ausdruck findet.

Der Weingärtnerstand ist nur in der Stadt vertreten. Bekanntlich ist der Tübinger Weingärtner ein ens sui generis und als solcher nicht wohl definirbar. Von ausnehmend hartem, zähem Stoffe leistet er in der Arbeit Außergewöhnliches und repräsentirt nahezu eine mittlere Pferdskraft, ermangelt aber dafür aller jener Gefühle, welche man unter dem Begriff Pietät zufammenfaßt. Den Geist der Zeit hat er in seiner Weise glücklich aufgefaßt, denn er steigert seine Ansprüche an die Gesellschaft gleichen Schritts mit der Fortbewegung der Zeit, legt aber eine außerordentliche Empfindlichkeit und Abneigung gegen die Ansprüche an den Tag, welche andererseits an ihn gemacht werden wollen. Stoff und Form seines Daseins wußte er gegen den Schliff der Zeit mit solchem Erfolg zu wahren, daß man oft glauben möchte, es sei zwischen seinem Wohnsitz, der untern Stadt, und dem Musensitz in der obern, nicht etwa eine chinesische Mauer, sondern ein breites Hochgebirge herübergepflanzt.

Eine Welt für sich ist die Gemeinde Gönningen. Nicht allein

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Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Tübingen. H. Lindemann, Stuttgart 1867, Seite 116. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OATuebingen_116.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)