Seite:OberamtTuttlingen0132.jpg

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Volk sich einen Schatz der Dichtung, zumal epischer, lyrischer, didaktischer, bewahrt und vermehrt es ihn? Eigentlich sangreich wird man unser Baarvolk nicht nennen können, wenn gleich man die Jugend natürlich auch singen hört und in größeren Orten der Männergesang mit Erfolg gepflegt wird. Die alterthümliche Art des Gesanges, die bei Gelegenheit noch halbverschämt sich vernehmen läßt, zeigt zierliche Schnörkel. Wahrscheinlich ist gerade der alterthümliche, dem Neuhochdeutschen fernstehende Charakter der Sprache der Fortentwicklung selbständiger Dichtung hinderlich gewesen. Auch Sagen, Märchen, Erzählungen spielen, wie es scheint, keine allzu große Rolle mehr, wie wohl in den Zeiten, da die bäuerliche Jugend im Sommer und Herbst mit Roß und Vieh die Bergweiden bezog und gewiß öfter das Bergfräulein am Karpfen oder Lupfen erblickte und bei Nacht Wuotans Heer über sich wegbrausen hörte. In Betreff des Materials müssen wir auf die glücklichen Forscher im Schwabenland, auf E. Meier zumal und Birlinger verweisen (s. u.). Auch der Aberglaube, besonders der Hexenglaube, so gewiß er nicht ausgestorben ist und nie aussterben wird, übt keine besondere Gewalt über unser Volk, und es liegt seinem praktischen Sinne näher, Viehversicherungen zu gründen und bei Erkrankung eines Thiers den Thierarzt zu fragen, als den Hexenbanner. Eher in räthselhaften oder aussichtslosen Menschenkrankheiten geht man zu diesem oder zum Sympathiemann auf den Heuberg und wo er sonst zu finden. – Die Hauptrolle spielt jedenfalls die didaktische Poesie, der Sprichwörterschatz und das neckende Epigramm. Beides nimmt sich in dem knappen mittelhochdeutschen Gewand unserer Sprache und in ihrer lebendigen Betonung besonders gut aus. – Zu den stehenden Formen gehören ferner die Grüße (s. den Wortschatz) und der sonstige Höflichkeitsapparat, der immer genau und gemessen in Anwendung gebracht wird, im Dienste des familienhaften Zusammenlebens der Gemeindeglieder, dessen Kehrseite freilich gerade wieder allerlei Geheimthuerei sein muß. Als eine Familie duzt sich fast das ganze Dorf und nennt sich mit dem Vornamen. Das Ihr ist für Respektspersonen aufbehalten und wird so auch zuweilen schriftlich dem Pfarrer gespendet, wo mündlich das Sie längst Platz gegriffen hat. Die Gemessenheit der Sitte erstreckt sich in das Familienleben selber und bildet neben der Öffentlichkeit einen Damm gegen die natürlich auch vorkommende Gefühlsrohheit (Riehl, Gesellsch. 6. Aufl. S. 74), der aber auch schon die gute, im allgemeinen eher zur Weichheit

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Karl Eduard Paulus: Beschreibung des Oberamts Tuttlingen. H. Lindemann, Stuttgart 1879, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:OberamtTuttlingen0132.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)