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Seite:Posse Band 5 0220.jpg

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6. Fälschungen

Die Geschichte wissenschaftlicher Behandlung des mittelalterlichen Urkundenwesens steht in unmittelbarer Verbindung mit der Geschichte der Urkundenfälschungen.

Es hängt, wie Breßlau ausführt[1], mit den verschiedenartigsten Seiten der mittelalterlichen Lebensanschauungen zusammen, daß derartige Fälschungen uns in einer Massenhaftigkeit begegnen, in der kaum ein anderes Zeitalter etwas Ähnliches aufzuweisen hat.

Unleugbar haben selbst die hervorragendsten Männer der Kirche Diebstahl und Lüge angewandt, um sich in den Besitz verehrter und wundertätiger Reliquien zu setzen und zu Fälschung und Betrug ihre Zuflucht genommen, wenn es galt, den Besitzstand, die Rechte, das Ansehen ihrer Kirchen zu mehren oder zu verteidigen. Es ist der Grundsatz, daß der Zweck das Mittel heilige, der auch derartige, schlechthin verwerfliche Mittel als erlaubt zu betrachten lehrte.

Zu den angedeuteten Zwecken wurden nicht nur einzelne, sondern ganze Reihen von Urkunden geschmiedet, aber nicht allein von der Geistlichkeit, sondern auch von Städten. Und auch Kanzleibeamte haben sich nicht gescheut, ohne Ermächtigung des Herrschers oder gar wider seinen Willen Urkunden (Kanzleifälschungen) auszustellen und mit allen Formen der Beglaubigung auszustatten[2]. Und von einem reichenauer Fälscher des 12. Jahrhunderts wissen wir, daß er nicht nur für Reichenau[3], sondern auch für Kempten[4], sowie für die schwäbischen Klöster Lindau[5] und Rheinau[6] eine Anzahl Fälschungen anfertigte, indem er den Text echter Urkunden beseitigte und sie neu beschrieb.

Nebenher gehen gelehrte Fälschungen, mit denen die neueren Jahrhunderte den aus den mittleren Zeiten überkommenen Vorrat vergrößert haben. Sie unterscheiden sich von jenen anderen dadurch, daß sie nur in seltenen Fällen dazu verwandt worden sind, unmittelbare praktische Vorteile denen zu erwirken, für die sie ausgestellt zu sein vorgaben. Die größere Mehrzahl dieser Fälschungen dient dem Zwecke, mächtigen Geschlechtern einen bis in graue Vorzeit zurückreichenden Stammbaum zu verschaffen, die eigene Heimat in glänzende Beleuchtung zu rücken. Vielfach sind sie die Produkte gelehrter Eitelkeit.

Daß viel gefälscht wurde, hat man auch im Mittelalter sehr wohl gewußt, worauf vor allem hinweist die Bulle des Papstes Innocenz III., der für die Prüfung der Echtheit seiner eigenen Urkunden und seiner nächsten Vorgänger so kluge Anleitung zu geben wußte[7]. Schon früh begann man, Strafbestimmungen gegen Urkundenfälscher den Gesetzen einzuverleiben und für den Fall der Anfechtung einer Urkunde die prozessualischen Formen rechtlich festzustellen.

Die Fälle, in denen im Mittelalter eine derartige Kritik auf Grund von Argumenten, die auch wir heute noch anwenden, ausgeübt worden ist, gehören zu den seltensten Ausnahmen.

Die Erfolge der Urkundenfälschung waren natürlich verschieden. Wo es sich um Verbriefung über Schenkungen von Grund und Boden handelte oder die Ausübung gewisser Rechte in Frage kam, mag ein Erfolg besonders bei Fälschung von Königsurkunden meist erreicht worden sein, denn die Königsurkunde galt als unscheltbar, sie durfte ihrem Inhalte nach nicht angefochten, nur ihre Originalität konnte angezweifelt werden, dann hatte aber die Gegenpartei den Beweis dafür zu erbringen, und das war bei den damaligen bescheidenen Fähigkeiten zu Urkundenkritik meist eine vergebliche Sache, selbst wenn diese Gegenpartei der Fiskus war. Wer also mit seiner Fälschung dem anderen zuvorkam, hatte dadurch oft den Streit gewonnen[8].

Karl der Große war der populärste Herrscher des Mittelalters, auf den Namen keines anderen Herrschers ist daher soviel gefälscht worden, als auf seinen Namen. So weist Mühlbacher (Mon. Germ. DD Karol. 1, S. 80) nach, daß die mittelalterlichen Fälschungen fast ⅖ des ganzen Urkundenvorrats betragen. Den weitaus größten Teil steuerte dazu, namentlich in Deutschland, das 12. Jahrhundert bei, in immer geringerem Maße das 11., 10. und 9. Jahrhundert, nur noch wenige


  1. Breßlau UL. 1, 11ff.
  2. Breßlau UL. 1, 86. – Meister 1, 164.
  3. Für Reichenau MR 1610 (1567) Karl III. (II, Taf. 52, 15); MR 1815 (1766) Arnulf (II, Taf. 53, 1); Urk. 1123 Nov. 26 (Fürstenberg. Urkundenb. 5, 51) Tauschurkunde der Äbte von Reichenau und St. Georgen im Schwarzwald auf vollständig radiertem Diplom reskribiert. Vgl. Lechner in Mitteil. des Inst. f. österr. Gesch. 21, 69. 71, Brandi, Quellen und Forsch. 1, 11. 36. 52. Mon. Germ. DD Karl I. No. 222.
  4. Für Kempten MR 161 u. 162 (157. 158). Vgl. S. 224.
  5. Für Lindau MR 992 (961) Ludwig der Fromme (II, Taf. 52, 12) auf radierter Urkunde Ludwigs reskribiert (II, Taf. 52, 12). Vgl. S. 103.
  6. Für Rheinau MR 1402 (1361) Ludwig des Deutschen auf radierter Urkunde Ludwigs. Vgl. S. 224.
  7. Posse, Lehre von den Privaturkunden 143.
  8. Bendel, Die ält. Urkunden der deutschen Herrscher für die ehemalige Benediktiner-Abtei Werden a. d. Ruhr 1908. S. 95.
Empfohlene Zitierweise:
Otto Posse: Die Siegel der deutschen Kaiser und Könige Band 5. Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden 1913, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Posse_Band_5_0220.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)