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Tag? Wenn die Sonne aufgeht, sagt das Kind aus der unmittelbaren Anschauung. Wenn die Sonne gesunken ist, sagte der alte Hebräer und der Hellene, schon aus Überlegung des Verstandes, weil die Nacht des Lichtes Mutter wäre. Um Mittag oder um Mitternacht, sagt die messende Wissenschaft, die fester Punkte bedarf, die sie am Stande des Himmels wahrnehmen kann; aber nur sie kann das: und so ist der Tagesanfang des Menschen ein abstracter Punkt geworden. Wann beginnet das Jahr, der Kreislauf des Keimens, Wachsens, Reifens und Welkens für das vegetative Leben, das Licht und Wärme des wandernden Sonnenballes auf seinem Trabanten hervorruft? Ganz früh schon hat der natürliche Mensch die Tage beobachtet, wo die Sonne am höchsten und am tiefsten stand; es sind ihm heilige Tage gewesen: Johannisfeuer und Julfeuer legen Zeugnis für die Empfindung unserer Vorfahren ab, und die denkwürdigsten Ereignisse sind von der Sage auf diese Tage verlegt. „Zeinen sunewenden der grosze mort geschach“, beginnt das Lied vom Untergange der Nibelunge, und um die Wintersonnenwende hat Odysseus die Freier erschlagen. Aber der Zeitmesser war den natürlichen Menschen einzig der Mond: davon heißt er; und als man zwölf Monde zu einem Jahre zusammenzufassen begann, hat man sowohl von den Sonnenwenden wie von den Tag- und Nachtgleichen gerechnet; es kam eben minder auf ein Jahr als auf zwölf Monde an. Wir haben eben Neujahr gefeiert, und eine Woche vorher Weihnacht; schwerlich ist uns dabei gegenwärtig gewesen, daß beide Feste eigentlich zusammenfallen sollten. Aber als die Christen die Geburt ihres Heilandes um die Wintersonnenwende ansetzten, haben sie das bürgerliche Jahr nicht angetastet; und die griechischen Gelehrten, die für Julius Cäsar das Sonnenjahr mit vierjähriger Tagschaltung einführten, das von der Wissenschaft längst gefordert war, haben auch nicht ganze Arbeit gemacht, sondern mit der Fixierung des Anfangstages auf das bislang herrschende Mondjahr eine seltsame Rücksicht genommen, dessen erster

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_153.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)