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darf nicht vergessen werden, die aus den künstlich geschaffenen süddeutschen Staaten lebenskräftige Einheiten zusammengeschweißt hat, die unser Reich am sichersten vor jener centralistischen Verödung bewahren, an der wir andere Völker kranken sehen. Als König Ludwig von Bayern vollends seine Hauptstadt künstlich zu einem Sitze der Künste machte, als das Blut der neuen deutschen Bildung auch durch dieses edle Glied unseres Volkes rascher zu cirkulieren begann, da hat er und haben gleichermaßen seine Nachfolger an unserem Reiche gebaut, und auch ihre Werke schauen wir mit nationalem Stolze an. Gern würden wir an solchem Tage alle trüben und beschämenden Erinnerungen an Hader und Blut, an Beschränktheit und Verblendung verbannen: aber der Blüte edler Jünglinge muß mindestens in der Aula einer Universität gedacht werden, die für den Glauben an das einige und freie Vaterland von schnöder Ungerechtigkeit und Beamtenwillkür gemartert worden sind, gar mancher, bis er innerlich zerbrach, andere, bis sie den Boden der Heimat flohen und im Auslande schon durch ihre Anwesenheit die Achtung vor dem Staate herabsetzen mußten, der solche Söhne nicht ertragen wollte. Und doch waren diese schwärmerischen Jünglinge und nicht ihre Bedrücker die Träger des Geistes von 1813 und 1870. Darum mußte das Regiment, das den Geist seines eigenen Staates, den es nicht verstand, mit Gewalt ersticken wollte, hilflos und ruhmlos zusammenbrechen, vor der Geschichte aber hat es allein die Verantwortung dafür zu tragen, daß unserem gesetzlichen und treuen Volke der gewaltsame Umsturz des Frühlings 1848 nicht erspart blieb. Der revolutionäre Ursprung, die kurze Dauer und das klanglose Ende des ersten deutschen Parlaments, vielleicht noch mehr der Druck des folgenden dumpfen Jahrzehnts und der Glanz des späteren Erfolges, der auf so ganz anderen Wegen erreicht ward, haben die verschwenderische Fülle von edelstem Wollen und von glänzendstem Talente vielfach verkennen lassen, die 1848 wahrlich nicht fehlten. Immer

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Neujahrsrede 1900 in der Friedrich-Wilhelm-Universität. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin 1901, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reden_und_Vortr%C3%A4ge_161.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)