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erinnere mich, daß von uns Kindern noch lange nachher zuweilen dieser und jener mit schaudernder Furcht angesehen wurde als einer, der den Hermann erschossen haben könne.

Ich mag etwas über vier Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern die großväterliche Wohnung in der Burg verließen und ins Dorf zogen, um ihren eigenen Haushalt zu beginnen. Das Dorf bestand aus einer einzigen Straße; an dieser lag auch, etwa mittwegs, auf erhöhtem Platze die Pfarrkirche mit spitzem Turm. Die Häuser, meist sehr klein, waren fast alle aus Fachwerk gebaut – hölzernes Gebälk mit Lehmfüllungen – und mit Dachziegeln gedeckt. Backsteingebäude gab’s vielleicht nur ein halbes Dutzend, von denen die meisten dem Grafen gehörten. Die Bewohner von Liblar, kleine Bauern, Tagelöhner, Handwerker mit einigen Wirten und Krämern, fanden in einer Eigentümlichkeit des Dorfes Grund zum Stolz: ihre Straße war gepflastert. Unser Haus war von sehr bescheidenen Dimensionen, hatte aber zwei Stockwerke, von denen jedoch das oberste so niedrig war, daß mein Großvater, aufrecht stehend, fast die Decke mit dem Kopf berührte.

Obgleich ich nun einen kleinen fünfzehn Monate jüngeren Bruder hatte, der nach meinem Großvater Heribert genannt war, so blieb ich doch des alten Mannes Liebling, und er wünschte, daß ich möglichst viel um ihn sein möchte. Meine Mutter hatte mich daher fast jeden Tag zur Burg zu bringen, und ich begleitete meinen Großvater zuweilen selbst bei seiner Arbeit. Wenn er zur Erntezeit Getreide einfuhr, so saß ich wohl bei ihm auf dem Sattel; und wenn er im Spätherbst oder Winter hinging, um seine fetten Schweine zu schlachten, was er selbst zu tun pflegte, so hatte ich die lederne Scheide mit den großen Messern zu tragen, die, an einem breiten mit blanker Messingschnalle versehenen Gurt hängend, mir so um die Schultern befestigt wurde, daß ich sie nicht auf der Erde nachschleppte. Und je wichtiger ich mich dabei zu fühlen schien, um so größer war meines Großvaters Vergnügen. Wenn er nichts besseres für mich zu tun wußte, so gab er mir eine alte Jagdflinte mit Steinschloß, das er mich lehrte zu spannen und abzudrücken, so daß es Funken gab. Dann durfte ich in der „Stube“ und den anliegenden Schlafkammern umherjagen und so viele Hasen, Rebhühner, Füchse, Rehe und Wildschweine schießen, wie meine Einbildung aufzujagen wußte. Das konnte mich stundenlang unterhalten, und mein Großvater war dann nicht zufrieden, bis ich ihm die wunderbarsten Geschichten erzählte von dem Wild, das ich geschossen, und von den Abenteuern, die ich in Wald und Feld bestanden hatte.

Plötzlich kam ein großes Unglück über die Familie. Mein Großvater hatte einen paralytischen Anfall, welcher seine Beine lähmte. Sein Oberkörper schien noch gesund zu sein, aber er konnte nicht mehr gehen noch stehen. Da war es denn mit des Burghalfen rüstiger Tätigkeit und mit seinen Kraftproben und seinen Ritten nach Vogelschießen und andern Festlichkeiten auf einmal zu Ende. Der große, schwere Mann, gestern noch strotzend von Kraft, denn er war nur einige sechzig Jahre alt und von einer sehr langlebigen Familie, saß nun vom Morgen bis Abend in einem ledernen Lehnstuhl, die Beine in Flanell gewickelt. Während des Tages stand der Stuhl gewöhnlich in der „Stube“ an dem

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 009. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s009.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)