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einen Freund, der mir allerlei Anregungen gab, und zwar einen recht sonderbaren. Sein Name war Georg van Bürck, und da er früher einmal Schuhmachermeister gewesen war, so wurde er gewöhnlich „Meister Jurges“ genannt. Sein Handwerk hatte er wegen einer Augenschwäche aufgeben müssen. Dann ernährte er sich als Botengänger und wurde von meinem Vater so häufig beschäftigt, daß er bei uns fast wie ein Zugehöriger aus- und einging, obgleich er selbst eine Frau und mehrere Kinder hatte, mit denen er ein kleines Haus in unserm Dorf bewohnte. Meister Jurges war damals ein Mann von mittleren Jahren, lang und hager, mit schmalem, freundlichem Gesicht, dem der weißliche Schein eines erblindeten Auges einen eigentümlichen Ausdruck gab. Er war einer von den Leuten, die bei guten natürlichen Anlagen nur geringen Unterricht genossen haben, bei denen aber das wenige genügt, um ihr Denkbedürfnis aus dem Geleise des in ihrer Lebenssphäre Althergebrachten und Alltäglichen herauszuheben. Er hatte allerlei Gedrucktes, das ihm in die Hände gefallen war, gelesen, und wenn er auch manches davon nicht verstand, so machte er sich doch seine eigenen Gedanken darüber. Es kamen ihm mancherlei drollige Einfälle, die er mit einer gewissen Sprachgewandtheit und zuweilen gar in recht pikanten Ausdrücken zum besten gab, und da seine Gemütsart kaum hätte gutartiger und gefälliger sein können, so mochte alle Welt ihn gern leiden.

Wie die ganze Bewohnerschaft des Dorfes und der Umgegend war er katholisch; aber in manchen Dingen stimmte er mit der Kirche nicht überein und meinte, wenn wir nur glauben und gar nicht selbständig denken sollten, wozu habe uns dann der allweise Schöpfer den Verstand gegeben? Besonders kritisierte er die Predigten des Pastors der Pfarre Liblar mit großer Lebhaftigkeit und Schärfe. Auch mit dem Apostel Paulus hatte er manche Meinungsverschiedenheiten. Obgleich ich noch ein bloßes Kind war, machte er mich zum Vertrauten seiner religiösen Zweifel und philosophischen Betrachtungen; er glaubte nämlich, da ich „studieren“ solle, so müßte ich mir über solche Dinge möglichst früh eine Meinung bilden, und man könne daher füglich mit mir darüber reden. Mit besonderem Ernste warnte er mich, nur ja nicht „auf Geistlich“ zu studieren, wie man sich am Niederrhein ausdrückte – d. h., nicht Theologie zu studieren mit der Absicht, Priester zu werden –, „denn“, sagte er, „die geistlichen Herren müssen zu viel Dinge sagen, an die sie selbst nicht glauben.“ Und dann ging er mit großer Beredsamkeit auf die in den Evangelien erzählten Wunder los, die ihm durchaus nicht in den Kopf wollten.

Aber zuweilen schien sich Meister Jurges doch zu erinnern, daß ich noch ein Kind war. Er nahm mich dann auf seine Knie und erzählte mir Märchen oder Gespenstergeschichten, wie man sie eben Kindern erzählt; er versäumte jedoch nie hinzuzusetzen, daß diese Geschichten alle erdichtet seien, und daß ich nur ja keine davon glauben solle. Ich versprach ihm dies, verlangte aber noch mehr. Die Kinderseele hat ein noch frisches und reines Bedürfnis für das Wunderbare, und wenn auch die Furcht an und für sich ein unbequemes, unangenehmes Gefühl ist, so haben doch die Schauer, welche der Gedanke an

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 018. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s018.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)