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das Ungeheure, Übernatürliche hervorbringt, einen seltsamen Reiz. Die Dorfleute, unter denen ich lebte, waren meist noch in hohem Grade abergläubisch. Sehr viele davon glaubten noch steif und fest, daß es Hexen gebe, die mit dem Teufel in sehr intimen Beziehungen ständen; und von zwei oder drei alten Frauen im Dorfe wurde im geheimen gemunkelt, daß es mit ihnen nicht richtig sei. Auch hörte ich einige unserer Nachbarn erzählen, daß sie selbst „Feuermänner“ auf dem Felde hätten einherwandeln sehen. Diese Feuermänner seien „arme Seelen“, wegen irgend besonderer Missetaten dazu verdammt, des Nachts in brennender Gestalt umzugehen. Nun wußte ich wohl, von meinen Gesprächen mit meinen Eltern, mit meinen Oheimen und mit Meister Jurges, daß es keine Hexen gebe, und daß die „Feuermänner“ bloße Irrwische seien, die sich in den Dünsten des Moorlandes bildeten; aber ich fand doch eine geheime Lust des Grauens daran, die alten Frauen zu betrachten, die der Hexerei verdächtig waren, und die Sumpfstellen zu besuchen, wo man die fürchterlichen Feuermänner gesehen haben wollte; und dabei ließ ich meiner Einbildungskraft freien Lauf und dachte mir allerlei wunderbare Geschichten aus.

Meinem Freunde Meister Jurges verdankte ich auch meine erste Vorstellung von einem Philosophen. Im Dorfe stand ein altes Gebäude, das einst offenbar ein viel vornehmeres Wohnhaus gewesen war, als die, welche es umgaben. Es war ansehnlich größer, das Gebälk des Fachwerkes war viel künstlicher gefügt und geschmückt, und sein Eingang von einem Überbau gedeckt, der, auf vier hölzernen Pfeilern ruhend, in die Straße hineinragte. Zu der Zeit, von der ich spreche, war das Haus unbewohnt und verfallen. Der Eingang hatte keine Tür mehr und stand den Dorfkindern offen, die sich auf den morschen Böden und Treppen frei umhertrieben und die wüsten Kammern und dunklen Winkel besonders gut zum Versteck- oder Räuberspiel fanden. Der unheimliche alte Bau interessierte mich lebhaft und von Meister Jurges erhielt ich den ersten Aufschluß über seine letzten Besitzer und Bewohner. Es waren zwei Brüder gewesen, alte Junggesellen, namens Krupp, damals schon seit einer Reihe von Jahren tot. Der ältere davon hieß Theodor, im Volksmunde „Krupps Duhres“ und war, wie mir Meister Jurges erzählte, ein höchst sonderbarer Herr. Er trug sein Haar noch in einen Zopf geflochten und auf seinem Kopfe einen altmodischen dreieckigen Hut. Da er nur ein Auge hatte, so gebrauchte er eine Brille mit nur einem Glase, und diese Brille war unter der vorderen Ecke seines Hutes befestigt, so daß er das Glas vor seinem sehenden Auge hatte, sobald er den Hut aufsetzte. Er besaß eine große Menge von Büchern und war ein grundgelehrter Mann. Oft ging er in Gedanken vertieft umher mit den Händen auf dem Rücken, ohne jemanden anzusehen. Die Kirche besuchte er nicht und als er starb, wollte er von der letzten Ölung nichts wissen. „Krupps Duhres“, so schloß Meister Jurges seine Beschreibung, „war ein Philosoph.“ Ich fragte meinen Vater, der auch von Krupps Duhres wußte und alles bestätigte, was Meister Jurges mir erzählt hatte, ob jener sonderbare Mann wirklich ein Philosoph gewesen sei. Mein Vater meinte, das sei wohl außer Zweifel. Dies war meine erste Vorstellung von einem Philosophen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 019. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s019.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)