Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s024.jpg

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Mißton hinein. Und wie es zu geschehen pflegt, wenn die Übelnehmerei einmal begonnen hat, so fanden sich auch bald andere Veranlassungen zu gegenseitiger Unzufriedenheit. Dann starb der alte Graf und zu derselben Zeit auch der brave alte Rentmeister. Die „Gracht“ ging auf den ältesten Sohn des Grafen, den Majoratsherrn über, und damit begann ein neues Regiment. Der junge Graf war zwar ein Mann gutartigen Charakters, aber die ehrwürdigen Grundsätze in bezug auf alte Pächter und alte Diener saßen ihm nicht in Fleisch und Blut, wie seinem Vater. Die vornehme patriarchalische Einfachheit, die früher im „Hause“ geherrscht hatte, kam ihm ein wenig unzeitgemäß und langweilig vor. Er hatte mehr Vergnügen an seinen englischen Rennpferden und flotten Jockeys, als an den fetten, schweren Braunen, die früher die Familienkarosse gezogen hatten, mit einem grauhaarigen, schläfrigen Kutscher auf dem Bock. Ihn knüpfte auch keine gemeinsame Erinnerung an die schwere „französische Zeit“ mit dem Burghalfen zusammen, und somit wurden die Beziehungen zwischen ihnen mehr zu einem bloßen Interessenverhältnis. Er stellte einen neuen Rentmeister an, einen jungen Mann von durchaus unsentimentalen Lebensanschauungen und brüsken Manieren, und als dieser ihm auseinandersetzte, daß sich aus den Gütern ein bedeutend höherer Ertrag herausschlagen ließe, so war das bei den gesteigerten Bedürfnissen nicht unwillkommen. Unter solchen Umständen verschärften sich die Mißhelligkeiten zwischen dem Grafen und dem Burghalfen leicht. Kurz – der unmittelbaren Veranlassung erinnere ich mich nicht mehr –, die Pachtung wurde gekündigt, und ein oder zwei Jahre später mußte mein Großvater mit den Seinigen die Burg verlassen. Was sein Nachfolger in der Pachtung von dem Haus- und Ackergerät und dem Viehstande nicht übernehmen wollte, das wurde in dem Hofe versteigert. Die Versteigerung dauerte mehrere Tage, und ich erinnere mich, daß ich ihr einmal auf ein paar Stunden beiwohnte und wie häßlich mir die Späße des Auktionators in die Ohren klangen – denn ich fühlte einen tiefen Groll in meinem jungen Herzen, als ob da ein großes Unrecht geschähe. Meine Großeltern bewohnten nun ein Haus im Dorf, aber sie überlebten den Abzug aus der Burg nicht ein Jahr. Die Großmutter starb zuerst und der Großvater zwölf Tage nach ihr. Viele aufrichtige Tränen wurden ihnen nachgeweint.

Mittlerweile war auch mit mir eine Veränderung vorgegangen. Mit dem Eintritt in mein neuntes Jahr hielt mein Vater dafür, daß ich der Dorfschule in Liblar entwachsen sei. Er schickte mich daher zur Elementarschule in Brühl, die mit dem dortigen Lehrerseminar in Verbindung stand und als eine Musterschule galt. Die Schulzimmer befanden sich in einem alten Franziskanerkloster, das auch das Seminar beherbergte, und ich erinnere mich mit Grauen der Qual, die mein empfindliches musikalisches Gehör aushielt, als mein Vater, um mich dem Hauptlehrer Grönings vorzustellen, mich durch einen langen Gang des alten Gebäudes führte und aus jeder Fensternische die Fingerübungen eines Seminaristen auf der Violine hervorklangen, so daß ich wohl ein Dutzend dieser Instrumente zugleich hörte. Der Elementarunterricht, den ich unter der Leitung des Herrn Grönings, eines wohlunterrichteten, methodisch strengen Mannes und ausgezeichneten Lehrers

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 024. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s024.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)