Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s032.jpg

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Grab Christi den Ungläubigen abzunehmen. Er übergibt die Sorge für die Burg und die Gräfin seinem Burgvogt Golo, dem er volles Vertrauen schenkt. Kaum ist der Graf davongeritten, als der böse Golo den Gedanken faßt, sich selbst zum Landgrafen zu machen und die schöne Genovefa zu heiraten. Die schöne Genovefa stößt ihn mit Abscheu zurück. Da läßt der böse Golo sie in ein tiefes Burgverließ werfen und befiehlt einem Knechte, sie zu töten. Der Knecht verspricht es, erbarmt sich aber der schönen Genovefa und führt sie aus ihrem Kerker in einen großen einsamen Wald, während er dem bösen Golo sagt, daß der Mord vollbracht sei. Die schöne Genovefa nährt sich im Walde von Kräutern und Beeren und findet Obdach in einer Felsenhöhle. Da gebiert sie ein Knäblein, den Sohn des Landgrafen Siegfried. Dem Kinde gibt sie den Namen Schmerzenreich. Als sie nun die Gefahr, mit dem Kinde verhungern zu müssen, vor sich sieht und der Verzweiflung nahe ist, da betet sie inbrünstig zu Gott um Rettung, und siehe, es kommt eine Hirschkuh mit vollem Euter und bietet hinreichende Nahrung für Mutter und Kind. Täglich erscheint die treue Hirschkuh wieder, und Schmerzenreich wächst allmählich auf zu einem kräftigen Knaben. Plötzlich kommt der Landgraf Siegfried vom heiligen Lande zurück, zum großen Schrecken des bösen Golo, der gehofft hatte, sein Herr werde in der Ferne den Tod finden. Da die andern Burgleute ihn sofort wiedererkennen, so übergibt Golo ihm das Schloß und erzählt ihm eine abscheuliche Lügengeschichte über Genovefa, die verdientermaßen gestorben sei. Der Graf ist tief betrübt. Er zieht zur Jagd in den Wald hinaus und stößt auf eine Hirschkuh, die er verfolgt, und die ihn immer tiefer in die Einsamkeit lockt bis zur der Felsenhöhle, in welcher die schöne Genovefa mit Schmerzenreich wohnt. Die Gatten erkennen sich wieder, die Wahrheit kommt an den Tag, die schöne Genovefa und[1] Schmerzenreich werden im Triumph in die Burg zurückgebracht und der schändliche Golo wird verdammt, in demselben Kerker, in den er einst Genovefa geworfen, des bittern Hungertodes zu sterben.

Das Puppentheater führte noch zwei andere Stücke vor, eins vom Prinzen Eugen – ein Heldenstück, in welchem große Schlachten geschlagen und die papiernen Türken reihenweise niedergeschossen wurden – und ein Feen- und Zauberstück mit allerlei erstaunlichen Verwandlungen. Diese Dinge waren recht hübsch, aber mit der Genovefa ließen sie sich nicht vergleichen. Der Eindruck, den die Genovefa auf mich machte, war überwältigend. Ich vergoß heiße Tränen bei dem Abschied des Grafen Siegfried von seiner Gemahlin, und noch mehr bei ihrem Wiedersehen; ich konnte kaum einen Jubelschrei unterdrücken als die Gatten wieder in ihre Burg einzogen und den schändlichen Golo seine wohlverdiente Strafe erreichte. Ich glaube nicht, daß jemals in meinem Leben bei der Betrachtung eines Schauspieles meine Phantasie tätiger, die Illusion vollständiger und die Wirkung auf Geist und Gemüt unmittelbarer und mächtiger gewesen ist. Diese Puppe mit dem Federhut war mir der leibhaftige Graf Siegfried, diese mit dem roten Gesicht und dem schwarzen Bart der böse Golo, diese im weißen Kleide mit den gelben Haaren die schöne Genovefa und jenes kleine rötliche


  1. Vorlage: nnd
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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 032. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s032.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)