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ich. Wollen wir in Magenbittern anstoßen?“ Ich war’s zufrieden. Er holte eine schwarze Flasche aus einem Wandschränkchen, füllte zwei kleine Gläser, und wir stießen in Magenbittern an, daß es klang. Noch eine Umarmung, und ich schied von ihm – auf Nimmerwiedersehen. Er starb nicht lange nachher.

Kehren wir jetzt zu meinem Jugendtagen zurück. Das stille Leben meiner ersten Jahre in Köln war doch nicht ohne seine Aufregungen. Ich erinnere mich besonders lebhaft zweier Vorfälle, die zurzeit einen tiefen Eindruck auf mich machten. Wenn ich von dem Hause meines Schlossermeisters zur Schule ging, so führte mich mein Weg die Trankgasse hinauf am Dom vorbei. Der Kölner Dom, der jetzt in der ganzen Herrlichkeit seiner Vollendung dasteht, sah damals noch einer großartige Ruine gleich. Nur der Chor war vollständig ausgebaut. Das Mittelstück zwischen dem Chor und den Türmen stand notdürftig überdacht, zum großen Teil noch in äußern Backsteinmauern, und von den beiden Türmen selbst erhob sich der eine wohl wenig mehr als sechzig Fuß über dem Boden, während der andere, der den jahrhundertealten weltberühmten Kran trug, vielleicht die drei- oder vierfache Höhe erreicht hatte. An beiden hatte der Zahn der Zeit das kunstvolle Meißelwerk vielfach verstümmelnd zernagt, und so blickten sie, unfertig und doch schon verwittert, greisenhaft und traurig herab auf das lebende Geschlecht. Als ich nun eines Morgens meinen gewöhnlichen Weg zur Schule ging, sah ich von der Höhe des Kranturms einen Gegenstand herunterfallen, den ich zuerst für einen Rock oder Mantel hielt, und von dem sich etwas, das wie eine Kappe aussah, im Fallen absonderte und vom Winde getragen wurde. Aber der vermeintliche Rock schoß stracks herunter und schlug mit dem Geräusche eines schweren Stoßes auf das Steinpflaster der Straße. Sofort liefen die Vorübergehenden zusammen, und es fand sich, daß in dem Rock ein Mann steckte, der unzweifelhaft, von dem hohen Turme springend, den Tod gesucht hatte. Er war, wie es schien, auf die Füße gefallen und lag, wie ein kleines Häufchen zusammengedrückt – die Knochen der Beine anscheinend in den Leib getrieben, der Kopf beinahe unverletzt, ein Kranz grauer Haare um einen kahlen Scheitel, die Augen geschlossen, das Gesicht das eines ältlichen Mannes, blaß und verzerrt. Der Gegenstand, der sich im Fallen von dem abstürzenden Menschen entfernt hatte, war eine Perücke, die, nachdem der Wind ein paar Sekunden mit ihr gespielt, sich dann in der Nähe ihres toten Eigentümers niederließ.

Dieses schreckliche Schauspiel setzte meine Einbildungskraft in eine unheimliche Bewegung. Ich gab mir große Mühe, zu erfahren, wer der unglückliche Mann gewesen sei, und was ihn wohl zu dem verzweifelten Entschluß getrieben haben mochte, seinen Tod durch den Sprung von dem Turm eines Gotteshauses zu suchen; aber ich begegnete nur unbestimmten, sich widersprechenden Gerüchten. Nun führte meine Phantasie mir alle möglichen Schicksale, Lebenslagen und Stimmungen vor, die den Menschen in den Selbstmord jagen könnten – hoffnungslose Not, verlorene Ehre, getäuschte Liebe, Gewissensqual ob eines geheimen Verbrechens – und bald entsprangen in meinem Kopfe allerlei Pläne von Romanen und Trauerspielen, die sämtlich mit jenem selbstmörderischen Sprung vom Domkran endeten.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 040. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s040.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2021)