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war es der Inbegriff alles Prächtigen und Wunderbaren. Mein Vater hatte mir oft davon erzählt; aber was ich sah, übertraf alle meine Erwartungen. Ich war außer mir vor Staunen, als ich zum erstenmal, wie das vor dem Anfang des Stückes zu geschehen pflegte, die gemalte Decke über dem Zuschauerraum sich auseinanderschieben und den von hundert Lichtern strahlenden Kronleuchter durch die geheimnisvolle Öffnung sich langsam heruntersenken sah – worauf die Decke sich wieder schloß. Auch die Aufführung packte mich gewaltig. Mit der ersten durchaus naiven Illusion, welche mich die Schicksale der schönen Genovefa hatte mitdurchleben lassen, war es allerdings vorbei. Die verunglückte „Banditenbraut“ in Brühl hatte mich stutzig gemacht. Aber was ich im Theater zu Köln sah, war von so viel höherer Art, daß ich mich dem Genuß wieder voll hingeben konnte. Der dramatische Geschmack meines Freundes, des Schlossermeisters, lag in der Richtung des Ritterstücks, und in seinen Augen gab es keinen größeren Schauspieler als Wilhelm Kunst, der zuweilen in Köln Gastrollen spielte. Kunst gehörte zu der Klasse der muskulösen Mimen – ein Riese von Gestalt und mit gewaltigen Körperkräften und einer Löwenstimme begabt. Aber diese Stimme war auch schöner Modulationen fähig und er gebrauchte seine außerordentlichen Mittel mit so viel Maß und Urteil, daß er sich, wie ich glaube, den Ruf eines nicht unbedeutenden, ja sehr achtungswerten dramatischen Darstellers bewahrt hat.

Das erste Stück, das ich an der Seite meines Schlossermeisters sah, war „Otto von Wittelsbach“, ein damals berühmtes Ritterspiel, in dem der Held den Kaiser Philipp von Schwaben, der ihn getäuscht, beim Schachspiel trifft, mit eisengepanzerter Faust auf das Schachbrett schlägt, daß die Figuren über die Bühne fliegen, und dann den Kaiser mit einem Schwertstreich niederstreckt. Hier war Kunst in seinem Element, und seine Leistung begeisterte mich im höchsten Grade. Ferner sah ich ihn als „Wetter vom Strahl“, im „Käthchen von Heilbronn“, und als Wallenstein in „Wallensteins Tod“ – freilich nicht schnell hintereinander, sondern es lagen Monate dazwischen, da der häufige Besuch des Theaters mit den Begriffen von Ökonomie, die unsere Lebensgewohnheiten beherrschten, nicht in Einklang stand. Mein Schlossermeister fand auch großen Gefallen an der akrobatischen Kunst und wußte mir viel zu erzählen von dem berühmten Averino, einem Stern erster Größe in diesem Fach, der ebenfalls zuweilen Köln besuchte, um im Theater Vorstellungen zu geben. Auch einer solchen wohnte ich mit meinem Freunde bei. Indes die halsbrechenden Sprünge, die unmenschlichen Verrenkungen und die Kraftproben mit Kanonenkugeln konnten mich wenig rühren, und ich sah den großen Averino, trotz des Enthusiasmus des Schlossermeisters, einmal und nicht wieder.

Aber um so tiefer hatte mich das Drama ergriffen, und ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, selbst etwas Dramatisches zu schaffen. Emsig las ich meine Beckersche Weltgeschichte, um einen guten historischen Stoff zu finden, und bald verfiel ich auf den angelsächsischen König Edwy, der um die Mitte des zehnten Jahrhunderts in England herrschte und sich durch seine Liebe zu der schönen Elgyva und seinen Streit mit dem heiligen Dunstan ein böses Schicksal bereitete. Es schien mir, daß,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 042. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s042.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)