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und in der Tat sah es einen Augenblick aus, als ob die Widersetzlichkeit der Landwehren im Rheinland und Westfalen sich ausbreiten und zum Sammelpunkt einer mächtigen und folgenreichen Bewegung gestalten werde. Aber was geschehen sollte, mußte dann sofort geschehen. So trat die Frage des Augenblicks auch an uns in Bonn heran. Kinkel war wieder da. Die Kammer, deren Mitglied er gewesen, hatte den König nochmals zur Anerkennung der Reichsverfassung und zur Annahme der Kaiserkrone aufgefordert und war dann aufgelöst worden. Kinkel war in Bonn der anerkannte demokratische Führer. Jetzt galt es für ihn, seine Fähigkeit zu rasch entschlossenem Handeln zu beweisen, oder die Führerschaft in der entscheidenden Stunde andern zu überlassen. Er zögerte keinen Augenblick. Was war zu tun? Daß die Landwehr, wenigstens der größte Teil davon, nicht unter die Waffen zu treten wünschte, um die Verteidiger der Reichsverfassung zu bekämpfen, war gewiß. Aber wollte sie diese Weigerung aufrecht halten, so mußte sie selbst die Waffen ergreifen gegen die preußische Regierung, gegen den eigenen „Kriegsherrn“. Um den Widerstand gegen die preußische Regierung tatkräftig zu machen, war sofortige massenweise Organisation nötig. Ob die Landwehr dazu gebracht werden konnte, ob sie allgemein bereit war, dem Beispiel von Düsseldorf, Iserlohn und Elberfeld zu folgen, mußte sich erst zeigen. Waren die Landwehrleute dazu bereit, so konnten sie nichts Einfacheres und Besseres tun, als sich ohne weiteres in den Besitz der Waffen zu setzen, die in den an verschiedenen Orten befindlichen Landwehr-Zeughäusern aufgespeichert lagen, um dann unter ihren eigenen Führern als eine kampffähige Organisation gegen die preußische Regierung Front zu machen. Ein solches Zeughaus befand sich in Siegburg, ein paar Stunden Weges von Bonn auf der rechten Rheinseite. Es gab dort Musketen mit allem Zubehör genug, um eine ansehnliche Schar zu bewaffnen, die sich dann leicht mit den Aufständischen in Elberfeld hätte in Verbindung setzen, eine bedeutende Macht bilden und den Aufstand nach allen Seiten ausbreiten können. Dies war der Gedanke, der den demokratischen Führern in Bonn und der Umgegend mit größerer oder geringerer Klarheit durch den Kopf ging, und es fand sich auch ein militärisches Haupt zu dessen Ausführung in der Person des ehemaligen Artillerieleutnants Fritz Anneke, der von Köln zu uns herüberkam. Auf den 11. Mai war die Landwehr des Distrikts nach Siegburg berufen, um eingekleidet zu werden. So drängte die Zeit.

Am 10. Mai hatten wir in Bonn eine Versammlung der Landwehrleute aus der Stadt und der Umgegend veranstaltet. Schon während der Morgenstunden strömte eine große Menge im Saal des Römers zusammen. Anselm Unger, zum Vorsitzenden erwählt, ermahnte die Leute, der Einberufung durch die preußische Regierung nicht Folge zu leisten, sondern, wenn die Waffen ergriffen werden müßten, sie dann gegen die Regierung, die das deutsche Volk um seine Freiheit und Einheit bringen wolle, zu ergreifen und zur Verteidigung der Reichsverfassung zu führen. Die Leute nahmen diese Ermahnung mit allen Zeichen warmen Einverständnisses auf. Die Versammlung dauerte den ganzen Tag. Die Zahl der herbeikommenden Landwehrleute wurde immer größer. Verschiedene

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s114.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)