Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s162.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

zwei Bänken möblierten Raum zu benutzen. Strodtmann nahm eine Stube im benachbarten Wirtshaus. Meine Freunde wohnten zusammen in der Nähe beim Schulmeister von Enge. Alles ließ sich gemütlich genug an. Solange Strodtmann bei mir war, bewegten sich meine Gedanken noch meist in den alten Verhältnissen, und mein Aufenthalt in Zürich hätte als ein Abschnitt einer studentischen Vergnügungsreise gelten können. Aber nach etwa zehn Tagen kehrte der liebe gute Freund nach Bonn zurück, und nun begann für mich das Flüchtlingsleben in seiner wahren Gestalt. Ich war noch nicht zu dessen klarer Erkenntnis gekommen, als die Krankheit, die sich schon in Dornachbruck gemeldet hatte und dann durch die frohe, durch Strodtmanns Kommen hervorgebrachte Aufregung unterbrochen worden war, sich zu einem heftigen Fieber entwickelte, das mich ein paar Wochen im Bett hielt. Der Arzt von Enge, sowie die gute Witwe Landolt und ihre Tochter sorgten treulich für mich, und ich genas. Aber als ich wieder aufstand, fand ich mich in einer fremden Welt. Es kam mir zum Bewußtsein, daß ich absolut nichts zu tun hatte. Mein erster Impuls war, mir eine regelmäßige Beschäftigung zum Lebensunterhalt zu suchen. Ich überzeugte mich bald, daß für einen jungen Menschen meiner Art, der etwa Unterricht im Lateinischen, Griechischen und der Musik hätte geben können, bei einer Bevölkerung, welche die massenhaft eingeströmten Flüchtlinge keineswegs gern sah, an eine lohnende Erwerbstätigkeit nicht zu denken sein werden, wenigstens nicht auf einige Zeit hinaus. Die andern Flüchtlinge waren in derselben Lage, aber viele von ihnen blickten auf solche Bestrebungen, solange das mitgebrachte Geld nicht erschöpft war, mit einer gewissen vornehmen Geringschätzung herab. Es stand bei ihnen durchaus fest, daß in naher Zukunft in den politischen Verhältnissen des Vaterlandes ein neuer Umschwung eintreten müsse. Niemand übt die Kunst, sich selbst mit den windigsten Illusionen zu täuschen, so geschickt, geschäftsmäßig und unverdrossen aus wie der politische Flüchtling. In jeder Zeitung gelang es uns, Nachrichten zu finden, die auf den unvermeidlichen und baldigen Ausbruch einer neuen Revolution klar hindeuteten. Es war gewiß, daß wir bald triumphierend in das Vaterland zurückkehren und dann als die Vorkämpfer und Märtyrer unserer siegreichen Sache die Helden des Tages sein würden. Warum sollte man sich da Sorge um die Zukunft machen? Wichtiger schien es, für die kommende Aktion die Rollen zu verteilen. Mit tiefem Ernste erörterte man, wer bei der bevorstehenden Umwälzung Mitglied der provisorischen Regierung, Minister, militärischer Führer werden sollte, und wer nicht. Man saß über den Charakter, die Fähigkeiten und besonders die „revolutionäre Gesinnungstüchtigkeit“ aller, die dabei in Betracht kommen konnten, scharf zu Gericht, und wenige vergaßen dabei die Stellung, zu welcher sie sich selbst berechtigt hielten. Kurz, man disponierte über die zukünftige Herrlichkeit, als hätte man das Heft der Macht tatsächlich in der Hand. Dieser Geist war wohl geeignet, die Entwicklung eines leichtsinnigen Wirtshauslebens zu fördern, dem sich viele unserer Schicksalsgenossen denn auch nach Kräften hingaben. Ich hörte nicht selten Flüchtlinge mit einer Art vornehmen Hochgefühls sagen, daß das Vaterland auf uns als die Helfer und

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)