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Führer blicke; daß wir unser Leben dieser hohen Pflicht ungeteilt widmen müßten, und daß wir daher unsere Zeit und Kräfte nicht mit alltäglichen, spießbürgerlichen Beschäftigungen zersplittern und vergeuden dürften. Zur Verhütung solches Zersplitterns war es denn am besten, sich mit Gleichgesinnten über die Interessen der Freiheit und des Vaterlandes zu besprechen und sich in dieser patriotischen Arbeit höchstens die Erholung einer Partie Domino oder Kegel oder eines Ausfluges nach einem nahen Vergnügungsorte zu gönnen.

Ich muß zugestehen, daß ich die Illusion über das Bevorstehen einer neuen revolutionären Erhebung treuherzig teilte. Aber das Wirtshaus hatte für mich nicht den geringsten Reiz, und bald fing das Flüchtlingsleben an, mich wie eine fürchterliche Öde anzustarren. Es befiel mich wie wahrer Hunger nach einer geregelten und nützlichen geistigen Arbeit. Zuerst schloß sich dieses Verlangen an die Aufgaben an, die ich als junger Mann in den vorausgesehenen neuen Kämpfen in Deutschland zu erfüllen haben würde. Mit meinen nächsten Freunden, die fast alle preußische Offiziere gewesen und vortreffliche Lehrer waren, ging ich die militärischen Operationen in Baden auf einer eigens dazu gezeichneten Karte kritisch durch. Daran knüpfte sich dann eine Reihe von militärischen Studien, taktischen und strategischen Charakters, zu denen mir meine Freunde das Material und die nötige Unterweisung lieferten, und die ich mit großem Eifer betrieb. Ich ahnte damals nicht, daß die so gesammelten Kenntnisse mir dereinst auf einem von Deutschland sehr entfernten Operationsfelde zugute kommen könnten und daß einer meiner Lehrer, Schimmelpfennig, einmal als Brigadekommandeur unter meinen Befehlen stehen würde.

Aber diese Arbeit tat mir nicht Genüge. Meine alte Liebe zu historischen Studien war ungeschwächt, und da es mir gelang, zu einer ziemlich wohlausgestatteten Bibliothek Zutritt zu erhalten, in der ich Rankes Werke und manche andere Bücher von Wert fand, so war ich bald wieder in die Geschichte der Reformationszeit vertieft. Als der Winter kam, wurde meine von der guten Witwe Landolt gemietete Stube mangelhafter Heizung wegen unbehaglich. Ich bezog also mit einem pfälzischen Revolutionsgenossen, einem alten Oberförster namens Emmermann, ein bequemes Quartier in der Wohnung eines Kaufmanns namens Dolder, im dritten Stock eines ansehnlichen Hauses am Schanzengraben. Mein Stubenkamerad Emmermann war ein Fünfziger und hatte das typische alte Oberförstergesicht jener Zeit – wettergebräunt, von scharfen Augen beleuchtet, von einem Netz tiefer Furchen und Fältchen durchzogen, und mit einem riesenhaften, ins Graue spielenden Schnurrbart geschmückt. Er war ein alter Jungeselle, eine gute, liebenswürdige, menschenfreundliche Seele, und wir lebten in heiterem Frieden und ungetrübter Freundschaft zusammen. Er erzählte mir oft, sein Forsthaus habe in der Nähe eines Ortes gelegen, der Tronegg geheißen und in grauer Vorzeit der Sitz des finstern Helden des Nibelungenliedes, Hagen von Tronje, gewesen sei. Etwa zwanzig Jahre später starb mein Freund Emmermann als Forstbeamter des Herrn von Planta in Graubünden, in dessen Dienste er getreten war, als die neue Revolution in Deutschland immer nicht kommen wollte.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s163.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)