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Unser Hausherr, der Kaufmann Dolder, an dessen Tisch wir auch unsere Mahlzeiten nahmen, war ein Mann von der durchschnittlichen schweizerischen Bildung, die bei dem vortrefflichen Unterrichtswesen im Kanton Zürich eben nicht niedrig steht. Er nahm an allen Zeitereignissen ein lebhaftes und intelligentes Interesse und war besonders stolz darauf, im Sonderbundskriege als Major im eidgenössischen Heer gedient zu haben. Seine einzige „Schlacht“ war allerdings nur ein kleines Gefecht bei Lunnern gewesen, aber obgleich man bei dieser Affäre auch nur wenige Schüsse gewechselt hatte, so erzählte er doch gern davon. Auch besaß er eine kleine Sammlung militärischer Bücher, die er mir bereitwillig zur Verfügung stellte; und wenn ich sonst wissenschaftliches Material bedurfte, so bemühte er sich eifrig, mir dazu zu verhelfen. Mit warmer Dankbarkeit gedenke ich auch seiner Gattin, einer Frau in mittleren Jahren, weder schön noch geistreich, aber in hohem Grade verständig und von einer edlen Mütterlichkeit des Wesens. Sie erinnerte mich nicht selten so lebhaft an meine eigene Mutter, daß es mir in ihrer Nähe fast heimatlich zumute wurde.

So lebte ich in angenehmen häuslichen Verhältnissen und setzte meine militärischen und geschichtlichen Studien emsig fort. Obgleich ich das Bierhausleben vermied, so schloß ich mich doch keineswegs von dem Verkehr mit den Flüchtlingen im größeren Kreise ab. Wir hatten einen politischen Klub, der sich wöchentlich versammelte und an dessen Verhandlungen ich regen Anteil nahm. Dieser unterhielt eine Korrespondenz mit gewissen Gesinnungsgenossen im Vaterlande, unterrichtete sich über die Volksstimmung und alles, was als Vorzeichen der kommenden neuen Revolution gelten konnte, und suchte hier und da nachzuhelfen, – eine Tätigkeit, von der ich erst später einsehen lernte, wie illusorisch sie war. In der Tat kam mir schon damals der Gedanke, die Revolution möchte etwas länger, als wir geglaubt, auf sich warten lassen, und ich fing an, für mich selbst Zukunftspläne zu machen. Es ging das Gerücht, daß die schweizerische Bundesregierung beabsichtige, in Zürich eine große eidgenössische Universität zu errichten. An dieser Universität dachte ich im Laufe der Zeit, wenn die neue deutsche Revolution gar zu lange auf sich warten lassen sollte, mich als Privatdozent der Geschichte etablieren und mir dann nach und nach eine Professur erobern zu können. Vorläufig engagierte ich mich, der von meinem Freunde Dr. Hermann Becker, dem „roten Becker“, redigierten Zeitung in Köln Korrespondenzen und Artikel gegen Honorar zu liefern und mich so bei meinen äußerst bescheidenen Bedürfnissen bis zur Erlangung eines festen Erwerbes über Wasser zu halten. So glaubte ich denn, im Nebel der Zukunft einige Lichtblicke zu sehen.

Meine merkwürdigste Bekanntschaft in jenen Tagen war die von Richard Wagner, der infolge seiner Beteiligung an den revolutionären Ereignissen in Dresden auch in Zürich als Flüchtling lebte. Er hatte schon einige seiner bedeutendsten Werke geschaffen, aber seine Größe war nur in einem engen Kreise erkannt worden. Unter seinen damaligen Schicksalsgenossen war er keineswegs beliebt. Er galt als ein äußerst anmaßender, herrischer Geselle, mit dem niemand umgehen könne, und der seine Gattin, eine recht stattliche, gutmütige, aber geistig nicht hervorragend

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s164.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)