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Kraft völlig zerstört hätte. Dann teilte sie mir mit, daß Kinkel, dem Gerücht gemäß, im April wegen der Siegburger Affäre in Köln vor das Geschworenengericht gestellt werden solle, und daß sich dann vielleicht günstige Gelegenheit für einen Befreiungsversuch bieten möchte. Sie bat mich nun um meinen Rat, da sie sowohl meiner Freundschaft wie meinem Urteil vertraue.

Die Nacht nach der Ankunft dieses Briefes lag ich lange wach. Zwischen den Zeilen hatte ich darin die Frage gelesen, ob ich nicht selbst das Wagnis unternehmen wolle. Diese Frage ließ mich nicht schlafen. Ich sah Kinkel in seiner Züchtlingsjacke am Spulrade beständig vor mir, und ich konnte den Anblick kaum ertragen. Als Freund war ich ihm von Herzen zugetan. Auch glaubte ich, daß er berufen sein möchte, mit seinen Geistesgaben, seinem Enthusiasmus und seiner seltenen Beredsamkeit der Sache des Vaterlandes und der Freiheit noch große Dienste zu leisten. Der Wunsch, ihn, wenn ich könnte, Deutschland und seiner Familie wiederzugeben, wurde mir unwiderstehlich. Ich entschloß mich, es zu versuchen, und beruhigt von diesem Entschluß schlief ich ein.

Am nächsten Morgen fing ich an, mir die Sache im einzelnen zu überlegen. Ich erinnere mich jenes Morgens noch sehr klar. Zwei Bedenken beschäftigten mich ernstlich. Das eine war, ob ich fähig sei, ein so schwieriges Unternehmen zu glücklichem Ende zu führen. Ich sagte mir, Frau Kinkel, die doch am meisten zu gewinnen und zu verlieren habe, schiene mich doch für fähig zu halten, und dann gezieme es sich mir nicht, ihrem Vertrauen gegenüber meine Fähigkeit in Zweifel zu stellen. Würden aber diejenigen, deren Mitwirkung bei einem so gefährlichen Streich gewonnen werden müßte, einem so blutjungen Menschen, wie ich war, dasselbe Vertrauen entgegenbringen? Ich konnte es mir vielleicht durch festes und besonnenes Auftreten erwerben. Auch sagte ich mir, daß ich als junger, unbedeutender und wenig gekannter Mensch weit eher unbemerkt bleiben würde als ein älterer und mehr bekannter Mann, und daß ich mich daher mit geringerer Gefahr in den Rachen des Löwen wagen könne. Und schließlich, – würden ältere, erfahrene, an genaues Abwägen der Chancen gewöhnte Männer sich überhaupt willig finden, alles das zu tun, was die Lösung der Aufgabe erfordern möchte? Vielleicht nicht. Kurz, dies war, alles bedacht, ein Stück Arbeit für einen jungen Menschen, und meine Jugend erschien mir zuletzt eher im Lichte eines Vorzuges als eines Nachteils.

Mein zweites Bedenken betraf meine Eltern. Konnte ich es ihnen gegenüber verantworten, nachdem ich soeben einem furchtbaren Schicksal entgangen war, Leben und Freiheit nochmals aufs Spiel zu setzen? Würden sie es billigen? Eines war mir klar: ich durfte meine Eltern in diesem Falle nicht um ihre Einwilligung fragen, denn ich hätte dann mit ihnen über mein Vorhaben korrespondieren müssen, und eine solche allen möglichen Zufällen unterworfene Korrespondenz hätte leicht zur Entdeckung und gänzlichen Vereitelung des Planes führen können. Nein, sollte das Unternehmen gelingen, so mußte es ein tiefes Geheimnis bleiben, von dem nur die Mitwirkenden wissen durften, und auch diese womöglich nur teilweise. Selbst den Meinigen durfte ich es nicht einmal

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s168.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)