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demokratischen Blattes, sondern auch Führer des demokratischen Vereins in Köln, und ich konnte mit Sicherheit darauf rechnen, daß, wenn irgend eine Absicht gehegt würde, Kinkel während des Siegburger Prozesses zu befreien, er gewiß davon unterrichtet sei. Becker erzählte mir denn auch mit der größten Offenherzigkeit, was man alles darüber geredet und geplant habe, und daß alle Welt davon spreche, „etwas müsse getan werden“. Es war mir klar, daß, da alle Welt davon sprach, ein solcher Versuch unmöglich gelingen könne, und ich freute mich zu hören, daß Becker diese Überzeugung entschieden teilte. Ich war also darüber beruhigt, daß man in Köln nichts tun werde, das geeignet war, spätere Versuche zu erschweren.

Bald wurde das Geheimnis meiner Anwesenheit von meinen nächsten Freunden mit echt kölnischer Gemütlichkeit so vielen anderen mitgeteilt, und man wollte mich so oft zum Besuch öffentlicher Vergnügungsorte am hellen Tage bereden, daß ich glaubte, das Weite suchen zu müssen. So reiste ich denn mit einem Nachtzuge über Aachen nach Brüssel und von dort nach Paris. Meine Absichten in bezug auf Kinkel hatte ich auch in Köln niemandem anvertraut. Becker wußte nicht besser, als daß ich nach Paris gereist sei, um mit den dort lebenden deutschen Flüchtlingen Verbindungen anzuknüpfen, um über die dortige Situation für seine Zeitung Korrespondenzen zu schreiben, und vielleicht um geschichtlicher Studien halber längere Zeit in der französischen Hauptstadt zu verweilen. In der Tat war es mir hauptsächlich darum zu tun, an einem sichern Platz still zu sitzen, bis der Siegburger Prozeß in Köln mit seinen Aufregungen vorüber und Kinkel nach Naugard oder einer anderen Strafanstalt transportiert sein würde, so daß ich ihn an einem bestimmten Orte finden und dort die vielleicht langwierige Arbeit beginnen könnte.

Die Eindrücke, die ich am Tage meiner Ankunft in Paris empfing, werden mir immer gegenwärtig bleiben. Die neuere Geschichte Frankreichs mit ihren welterschütternden Revolutionen war mir geläufig. Ich hatte sie seit den Märztagen 1848 mit besonderem Interesse studiert, indem ich hoffte, dadurch das, was um mich her vorging, besser verstehen und beurteilen zu lernen. Und nun war ich auf dem Schauplatze ihrer großen revolutionären Aktionen angekommen, in denen die Elementarkräfte der Gesellschaft in wilder Entfesselung das Alte gestürzt und dem Neuen die Bahn geöffnet hatten. Die Nacht hatte ich, in einem gefüllten Bahncoupé sitzend, fast schlaflos zugebracht. Vom Bahnhofe ging ich in das nächste kleine Hotel, ließ mir ein Zimmer anweisen und streckte mich auf dem Bette aus, um die verlorene Nachtruhe nachzuholen. Aber der Gedanke, daß ich nun wirklich in Paris sei, ließ den Schlaf nicht kommen. Ich stand auf und wanderte, mit einem Stadtplan bewaffnet, hinaus. Mit Begierde las ich die Straßennamen an den Ecken. Da waren sie denn, diese Schlachtfelder der neuen Ära, die meine erregte Phantasie sofort mit den historischen Gestalten bevölkerte, – hier der Platz der Bastille, wo das Volk seinen ersten Sieg erfocht; da der Temple, wo die königliche Familie gefangen gewesen; da das Faubourg St. Antoine, welches an den Tagen großer Entscheidung die Massen der Blusenmänner auf den Kampfplatz geschickt;

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s173.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)