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die ich damals in gutem Glauben für Beckers Zeitung schrieb, jetzt im Lichte der geschichtlichen Ereignisse wieder lesen zu müssen. Die Irrtümer, die ich damals beging, und die ich weniger als zwei Jahre darauf einsehen lernte, sind mir eine unvergeßliche und heilsame Lehre gewesen.

Einen großen Teil meiner Zeit brachte ich damit zu, die in Paris aufgehäuften Kunstschätze zu sehen, die mir eine bis dahin ungeahnte Welt eröffneten.

Ich erinnere mich aus jener Zeit eines Vorfalles, der, wie an sich unbedeutend er auch war, mir doch später wieder häufig im Gedächtnis aufstieg und mich zum Nachdenken anregte. Ich pflegte mit Zychlinski und einigen anderen Deutschen nach Tisch in einem gewissen Café im Quartier Latin zusammenzukommen. Eines Abends suchte ich meine Freunde dort vergebens. Dies war mir um so verdrießlicher, als ich Zychlinski bitten wollte, mir aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu helfen. Eine Geldanweisung von Becker für verdientes Honorar, die schon vor drei Tagen hätte ankommen sollen, war nämlich zu meiner Verwunderung ausgeblieben, und meine Barschaft bestand nur noch aus den wenigen Sous, die hinreichten, um für eine Tasse Kaffee zu bezahlen und dem Kellner das übliche Trinkgeld zu geben. Ich setzte mich nieder und ließ mir, wie gewöhnlich, eine Tasse Kaffee geben mit der zuversichtlichen Hoffnung, daß der eine oder andere meiner Freunde bald erscheinen werde. Ich trank meinen Kaffee möglichst langsam, aber als ich die Tasse geleert hatte, war noch keiner von den Erwarteten da. Ich warf meinen übriggebliebenen Zucker in ein Glas Wasser und bereitete mir so meine eau sucrée, wie das die ökonomischen Gäste in den Cafés des Quartier Latin nicht selten taten; ich las ein Journal nach dem andern, indem ich mein Zuckerwasser mit peinlicher Langsamkeit fast tropfenweise schlürfte, – noch immer niemand. Ich mochte wohl zwei Stunden da gesessen haben und es wurde spät. Die dame du comptoir, der man Zahlung zu leisten hatte, fing an zu gähnen und selbst Monsieur Louis, der Billardmarkör, der schon eine halbe Stunde unbeschäftigt gewesen, schien schläfrig zu werden. Ich sehe den flinken Monsieur Louis noch vor mir, wie er von Zeit zu Zeit die Bälle auf dem Billard mit den Fingern umherrollte und dann zu mir herüberblickte. Ich fühlte, als wäre die ganze Wirtschaft auf die lange Zeit, die ich bei meiner Tasse Kaffee verbracht, aufmerksam geworden. Das war mir höchst unangenehm, und ich beschloß, mit meinen letzten Sous zu zahlen und nach Hause zu gehen.

Aber als ich von meinem Stuhl aufstand, begegnete mir ein Unglück. Durch eine ungeschickte Bewegung stieß ich die Kaffeetasse von dem kleinen Tisch auf die Steinplatten des Fußbodens hinunter, und sie zerbrach. Natürlich dachte ich, ich müßte für die zerbrochene Tasse auch zahlen. Für den Kaffee, den ich getrunken, hatte ich Geld genug; für die zerbrochene Tasse aber nicht. Ich fing einen raschen Blick der dame du comptoir auf und einen von Monsieur Louis. Mir war, als bohrten beide in die Tiefe meines schuldigen Gewissens. Was tun? In diesem Augenblicke traten mehrere frische Gäste ein, französische Studenten, von denen zwei oder drei mit der dame du comptoir scherzhafte

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s175.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)