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Gespräche begannen. Konnte ich nun in diese Gruppe treten und in meinem holperigen Französisch der Dame das Geständnis meiner fatalen Lage machen? Würde ich mich nicht so dem Gespött und Gelächter der ganzen Gesellschaft aussetzen? In der Aufregung des Augenblicks faßte ich einen verwegenen Entschluß. Ich sagte mir selbst, daß ebenso wie andere Gäste auch einige meiner Freunde noch zu so später Stunde kommen könnten. Ich bestellte mir noch eine Tasse Kaffee, setzte mich nieder und nahm wieder ein Journal auf. Aber lesen konnte ich nicht mehr. Ich litt die Qualen des bösen Gewissens. Mit angstvoller Erwartung blickte ich Elender jeden Augenblick von der Zeitung auf nach der Türe. Lange wartete ich – aber nicht vergebens. Zychlinski kam wirklich noch. Eine Zentnerlast fiel von meiner Seele. Ich mußte an mich halten, um nicht einen Freudenschrei auszustoßen. Ich erzählte ihm meine Geschichte, und wir lachten herzlich darüber, aber es war mir doch nicht wohl dabei zumute. Zychlinski lieh mir Geld, so daß ich meine eigene Zeche bezahlen konnte. Als wir nun aufbrachen, und ich fragte die dame du comptoir, was die zerbrochene Tasse koste, erwiderte sie mit huldvoll herablassendem Lächeln, in diesem Café nehme man nie Bezahlung für zufällig zerbrochenes Geschirr. Meine Angst war also durchaus überflüssig gewesen. Und in meinem Quartier angelangt, fand ich einen Brief von Becker, welcher die so heißersehnte Anweisung auf einen Pariser Bankier enthielt.

Dieses kleine Abenteuer ist im späteren Leben noch oft in meiner Erinnerung aufgestiegen, und ich habe hin und wieder in mir die Frage erörtert, ob ich recht gehandelt habe, als ich mir die zweite Tasse Kaffee bestellte. Als Resultat dieser Überlegung möchte ich nun meinen Nachkommen, die diese Geschichte lesen, den ernstlichen Rat geben, unter ähnlichen Umständen nicht meinem Beispiel zu folgen und nie auf die Chance des Zufalls hin der alten Schuld eine neue unnötige ohne Zahlungsfähigkeit der alten hinzuzufügen. Es war eben ein Fall falscher Scham, – jener falschen Scham, die schon so manchen sonst gut angelegten und ursprünglich ehrlichen Menschen auf die abschüssigsten Bahnen des Unheils gedrängt hat. Mancher ist zum Lügner, zum Meineidigen, zum Fälscher, zum Dieb, ja zum Mörder geworden, dessen verbrecherische Laufbahn damit anfing, daß er nicht den sittlichen Mut besaß, sich lieber einer Beschämung auszusetzen, als einen Schritt von zweifelhafter Ehrlichkeit zu riskieren.

Während meines Aufenthalts in Paris ging nun in Köln der Prozeß gegen die an dem Zuge nach Siegburg Beteiligten vor sich. Früh am 12. April wurde Kinkel in Begleitung von drei Polizeibeamten von Naugard fortgeführt, und schon am 13. langte er in Köln an. Auf der Reise, die man mit großer Heimlichkeit machte, ließ man ihn einen Paletot und einen kleinen schwarzen Hut tragen. Sobald er im Zuchthause zu Köln abgeliefert war, mußte er wieder die graue Züchtlingsjacke anlegen. Einige Tage später erhielt Frau Kinkel die Erlaubnis, ihren Gatten im Zuchthause zu besuchen, freilich nur in Gegenwart von Gefängnisbeamten. Sie nahm ihren kleinen sechsjährigen Sohn Gottfried mit sich, der in dem kahlgeschorenen, abgehärmten, durch die Züchtlingskleidung entstellten Mann den Vater nicht wiedererkannte, bis er seine

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s176.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)