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dem entsetzlichen, gräulichen Verbrecher, sobald einmal über seinem Haupte das Wort der Begnadigung erscholl, wird es vergönnt, die Luft seines Rheinlandes zu atmen, das Wasser seines grünen Stromes zu trinken – diese vierzehn Tage haben es mich gelehrt, welche Seligkeit schon Luft und Licht der Heimat sind! – Mich aber hält der ferne, trübe, kalte Nord, und nicht einmal hinter dem Gitter ist es mir vergönnt, die Tränen meines Weibes zu sehen und in die Aurikelaugen meiner Kinder zu blicken! Ich begehre Ihr Mitleid nicht, denn wie scharf Ihr Spruch, wie blutig dieses Gesetzbuch sei, Sie können mein Los nicht gräßlicher machen als es ist. Der Mann, den man vor diesen Schranken der Feigheit zu zeihen wagte, hat im letzten Jahre dem Tode in seinen verschiedensten Gestalten so oft, so nahe, so kaltblütig ins Auge gesehen, daß auch die Guillotine ihn nicht besonders mehr erschüttert. Ich will Ihr Mitleid nicht; aber mein Recht verlange ich von Ihnen; mein Recht wälze ich auf Ihr Gewissen, und weil ich weiß, daß Sie, Bürger Geschworene, Ihrem rheinischen Mitbürger sein Recht nicht versagen können, darum erwarte ich mit der ruhigsten Zuversicht aus Ihrem Munde das „Nichtschuldig“. Ich habe gesprochen; nun richten Sie.“

Der Eindruck, welchen diese Worte hervorbrachten, ist mir von Augenzeugen geschildert worden. Zuerst lauschte die Zuhörerschaft mit fast atemloser Stille, aber es währte nicht lange, bis die Richter auf ihren erhöhten Sitzen, die Geschworenen, die dicht gedrängten Bürger im Saal, der Staatsanwalt, der die Anklage geführt, die Gendarmen, welche die Angeklagten bewachten, die Soldaten, deren Bajonette an der Türe blinkten, in Schluchzen und Tränen ausbrachen. Erst mehrere Minuten, nachdem Kinkel seine Rede geschlossen, fand der Gerichtspräsident seine Fassung und seine Stimme wieder, um die Prozedur weiter zu führen. Die Geschworenen brachten sofort ihren Wahrspruch ein; er lautete: „Nichtschuldig.“ Da erhob sich im Saal ein donnernder Jubelruf, der von der draußen versammelten Volksmenge aufgenommen in den Straßen der Stadt weithin widerhallte. Frau Johanna drängte sich auf ihren Mann zu, um ihn zu umarmen. Ein Polizeibeamter befahl den Kinkel umgebenden Gendarmen, sie zurückzuhalten. Aber Kinkel, sich hoch aufrichtend, rief mit gebietender Stimme: „Komm, Johanna! Gib Du Deinem Mann einen Kuß! Das soll Dir niemand wehren!“ Wie von einer höheren Macht überwältigt, traten die Gendarmen zurück und öffneten eine Gasse für die Frau, die sich in die Arme ihres Mannes warf.

Die andern Angeklagten konnten nun frei ihres Weges gehen. Nur Kinkel, der noch die ihm früher zuerkannte Strafe abzubüßen hatte, wurde wieder rasch von Bewaffneten umschlossen, nach dem Wagen gebracht und unter den Hochrufen des Volks und den Trommelwirbeln der Soldaten ins Gefängnis zurückgeführt.

Wie vorauszusehen gewesen, hatten die Behörden jede mögliche Vorsichtsmaßregel ergriffen, um einem Befreiungsversuch in Köln aufs wirksamste vorzubeugen. Die Regierung hatte auch unterdes beschlossen, Kinkel nicht wieder in das Zuchthaus zu Naugard, sondern in das zu Spandau zu bringen, wahrscheinlich weil in Naugard, wie in Pommern

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s181.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)