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überhaupt, sich warme Sympathien für den Unglücklichen offenbart hatten. Und um Kinkels Freunde irrezuführen und alle Schwierigkeiten unterwegs zu verhüten, wurde angeordnet, daß Kinkel nicht, wie das Publikum allgemein erwartete, auf der Eisenbahn, sondern in einer Kutsche von zwei Gendarmen begleitet, die Reise machen sollte. Die Abfahrt bewerkstelligte man am Tage nach dem Schluß des Prozesses mit aller Heimlichkeit. Aber gerade diese Vorkehrungen machten einen Fluchtversuch möglich, den Kinkel auf eigene Faust, ohne äußere Hülfe, unternahm, und den er mir später so erzählte:

Eines Abends ließen die Gendarmen die Kutsche an dem Wirtshause eines westfälischen Dorfes halten, wo sie und ihr Gefangener zu Abend essen sollten. Kinkel wurde in ein Zimmer des oberen Stockwerks geführt, wo ein Gendarm bei ihm blieb, während der andere hinunterging, um einige Anordnungen zu treffen. Kinkel bemerkte, daß die Türe des Zimmers nur angelehnt war, und daß der Schlüssel draußen im Schloß steckte. Der Gedanke, diesen Umstand zu seiner Flucht zu benutzen, schoß ihm durch den Kopf. Am Fenster stehend, suchte er die Aufmerksamkeit des ihn bewachenden Gendarmen, der an der Türe saß, auf ein Geräusch zu lenken, das sich drunten auf der Straße hören ließ. Sobald der Gendarm die Nähe der Türe verlassen hatte, um an das Fenster zu treten, sprang Kinkel mit einem raschen Satz aus der Tür und drehte draußen den Schlüssel um. Nun lief er, so schnell er konnte, die Treppe hinunter, durch eine Hintertür in den Hof, dann in den Garten und in der Richtung, die ihm eben offenstand, querfeldein. Es war unterdessen ganz dunkel geworden. Bald hörte der Flüchtige Stimmen hinter sich und, sich umwendend, sah er in der Entfernung Lichter, die sich hin und her bewegten. Kinkel rannte mit rasender Eile vorwärts, von der Verfolgung angespornt, die ihm augenscheinlich auf den Fersen war. Plötzlich stieß er mit der Stirn gegen einen harten Gegenstand und stürzte nieder, von dem Schlage betäubt.

Die Verfolgung hatte mittlerweile auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Der Gendarm, dem Kinkel aus dem Zimmer entwischt war, sprang nach der Tür, die er verschlossen fand. Er eilte nach dem Fenster zurück, aber in der Aufregung des Augenblicks gelang es ihm nicht, es so schnell, wie er wünschte, zu öffnen. Nun zertrümmerte er mit kräftigem Faustschlag die Scheiben und schrie auf die Gasse hinaus, der „Spitzbube“ sei entkommen. Das ganze Haus kam sofort in Alarm. Die Gendarmen sagten dem Wirte und den Dienstboten, der Entflohene sei einer der berüchtigtsten und gefährlichsten Verbrecher des Rheinlandes, und wer ihn wieder einfinge, würde einer Belohnung von hundert Talern sicher sein. Natürlich glaubten die Dorfleute alles, was ihnen gesagt wurde. Der Postillon, der die Kutsche gefahren und der keine Ahnung davon hatte, daß sein Passagier Kinkel gewesen, zeigte sich besonders tätig. Schnell wurden Laternen herbeigeschafft, um die Spur des Flüchtigen, der aus dem Hause und Hofe unbemerkt entwischt war, draußen aufzusuchen. Bald entdeckte der Postillon die Spur; doch hatte Kinkel durch diese Verzögerungen einen ansehnlichen Vorsprung gewonnen. Aber sein Anrennen gegen einen aufgestapelten Holzhaufen,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s182.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)