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werde, wenn ich das Fenster öffnete, da die Luft im Zimmer drückend warm sei. Ich erhielt die gewünschte Erlaubnis und rekognoszierte durch das geöffnete Fenster den Hof, ob ich eine Chance des Entkommens haben würde, wenn ich den Sprung durchs Fenster wagen müßte. Der Ausblick war sehr zweifelhaft. Dann setzte ich mich nieder und beschäftigte mich mit dem Beefsteak.

Der Wirt hatte unterdessen mit dem Beamten das Gastzimmer verlassen. Nach einigen Minuten traten sie wieder ein, und sogleich entstand um sie her ein Gemurmel, aus welchem die Worte: „Sie haben ihn“, herausklangen. Bald darauf kam der Wirt in die Nähe meines Tisches, und ich fragte ihn, was da los sei? Da hörte ich denn, ein junger Mann sei morgens früh angekommen, habe sich ein Zimmer geben lassen und sich auch seine Mahlzeiten aufs Zimmer bestellt. Soeben sei er verhaftet worden. Er sei Postsekretär in einem nicht weit entfernten Städtchen und habe die Postkasse um 300 Taler bestohlen, um damit nach Amerika zu gehen. „Der arme Kerl!“ setzte der Wirt verächtlich hinzu. „Es war mir gleich auffallend, daß er sich sein Mittagessen ins Zimmer bestellte, statt zur Table d’hote zu kommen. Und dann nur 300 Taler!“ Ich fühlte mich sehr erleichtert und konnte mich nicht enthalten, von dem Tisch, an dem der geheimnisvolle Beamte sich zu einem Imbiß und einem Schoppen Wein niedergelassen hatte, mir ein Zündhölzchen zu holen, um mir zur Tasse Kaffee eine Zigarre anzuzünden.

Anfangs August kehrte ich nach Köln zurück und hatte dort noch eine Zusammenkunft mit Frau Kinkel. Sie berichtete mir, daß die für die Befreiung ihres Gatten verfügbare Summe um ein ansehnliches gewachsen sei, und freute sich zu hören, daß ich diese Summe für hinreichend hielt, um nun ans Werk zu gehen. Wir verabredeten, daß das Geld an eine vertraute Person in Berlin geschickt werden sollte, von der ich es nach Bedarf in Empfang nehmen könne. Auch erzählte sie mir, daß sie eine Methode gefunden habe, Kinkel auf unverfängliche Weise Nachricht zu geben, wenn etwas für seine Befreiung geschähe. Sie habe ihm über ihre musikalischen Studien geschrieben und in ihren Briefen spielten lange Auseinandersetzungen über die „Fuge“ eine große Rolle. Kinkel habe ihr nun in einer ihr verständlichen, aber den Gefängnisbeamten, welche die Briefe revidierten, unverständlichen Weise angedeutet, daß er die Bedeutung des Wortes „Fuge“ (lateinisch „fuga“, deutsch „Flucht“) sich gemerkt habe und begierig sei, über dieses Thema mehr zu hören. Frau Johanna versprach mir, mit ihren Briefen an Kinkel vorsichtig zu sein und ihn nicht in unzeitige Aufregung zu versetzen – auch selbst nicht ungeduldig zu werden, wenn sie von mir nur selten hören sollte. So schieden wir und ich ging nach dem Schauplatz meines Unternehmens ab.

Auf dem Bahnhofe traf ich meinen Freund Jacobi, der auf dem Wege nach Schleswig-Holstein war, um dem kämpfenden Brudervolk seine Dienste als Mediziner zu widmen. Einen Teil des Weges konnten wir zusammen reisen. Dies war eine angenehme Überraschung. Eine um so unangenehmere war es, daß wir in dem Coupé, in dem wir Platz nahmen, den Professor Lassen von der Bonner Universität,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s184.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)