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der mich kannte, uns gerade gegenüber fanden. Wir stutzten beide einen Augenblick. Auch sah Lassen mich zuerst eine Weile verdutzt an. Aber da Jacobi und ich nun begannen, scheinbar unbefangen und lustig zu lachen und zu schwatzen, wie auch andere junge Leute das getan haben würden, so dachte der gute Orientalist wahrscheinlich, er müsse sich geirrt haben, und ich könne unmöglich der Übeltäter sein, dem ich ähnlich sähe.

Am 11. August kam ich in Berlin an. Da mein auf Heribert Jüssen lautender Paß in bester Ordnung war, so ließ mich die Polizei, die sonst alle Reisenden scharf beobachtete, ohne Schwierigkeit in die Stadt ein. Zunächst suchte ich einige meiner Universitätsfreunde auf, die von Bonn nach Berlin übergesiedelt waren. Ihnen vertraute ich mich an – d. h. meine Person; nicht das Geheimnis meines Planes. Bei zweien von ihnen, Müller und Rhodes, ehemaligen Mitgliedern der Bonner Frankonia, die nun in Berlin studierten und ein Quartier auf der Markgrafenstraße bewohnten, fand ich Obdach und herzliches Willkommen. Mit ihnen ging ich aus und ein, so daß die Polizisten, die in jenem Bezirk Dienst hatten, mich für einen der Berliner Universität angehörenden Studenten hielten. Und wie es damals in Berlin Sitte war und vielleicht teilweise noch ist, daß der Einwohner eines Miethauses nicht selbst einen Hausschlüssel führt, sondern, wenn er nachts nach Hause kommt, sich vom Nachtwächter der Straße das Haus aufschließen läßt, so rief auch ich, wenn ich spät von meinen Gängen zurückkehrte, den Nachtwächter herbei, damit er mir das gastliche Haus öffne. Daß ich, der steckbrieflich Verfolgte, der Flüchtling, von der Berliner Polizei, die für so allwissend galt, so willig bedient wurde, gab uns häufig Stoff zum Lachen und war in der Tat scherzhaft genug. Es ist daher nicht zu verwundern, daß ich unter solchen Umständen ein wenig übermütig wurde und einige leichtsinnige Dinge tat, die mir hätten teuer zu stehen kommen können. Während ich Verbindungen anknüpfte und Anstalten traf, welche die Befreiung Kinkels vorbereiteten, und von denen ich später genauer erzählen werde, konnte ich mich der Versuchung der von der Hauptstadt gebotenen Genüsse nicht ganz entziehen, und unter diesen Genüssen war einer, der mir besonders kostbar, aber auch besonders gefährlich wurde.

Die berühmte französische Schauspielerin Rachel befand sich damals in Berlin, um dort ihr klassisches Repertoire dem hauptstädtischen Publikum vorzuführen. Sie hatte zu jener Zeit den Höhepunkt ihres Ruhmes erreicht. Ihre Lebensgeschichte wurde wieder und wieder von den Zeitungen erzählt – wie dieses Kind armer elsässischer Juden, geboren im Jahre 1820 in einem kleinen Wirtshause im schweizerischen Kanton Aargau, ihre Eltern auf ihren Hausiertouren in Frankreich begleitet hatte; wie sie Pfennige erworben hatte, indem sie mit einer ihrer Schwestern auf den Straßen von Paris zur Harfe sang; wie ihre Stimme vielfache Aufmerksamkeit auf sich zog und sie darauf im Konservatorium aufgenommen wurde; wie sie vom Singen zum Deklamieren und zu schauspielerischen Versuchen überging; wie ihr phänomenales Genie, plötzlich hervorstrahlend, sie sofort den berühmtesten histrionischen Künstlern der Zeit voranstellte. Wir revolutionären jungen Leute erinnerten

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s185.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)