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uns auch mit besonderem Interesse an die kurz nach der Februarrevolution des Jahres 1848, als König Louis Philipp geflohen und die Republik proklamiert worden war, von Paris gekommenen Berichte, wie die Rachel auf einer Bühne in Paris die Marseillaise halb singend und halb sprechend rezitiert und damit in ihren Zuhörern einen wunderbaren Paroxysmus von patriotischer Begeisterung entflammt habe.

Einige meiner jungen Freunde in Berlin, die ihrer ersten Aufführung dort beigewohnt, kamen zu mir mit überaus enthusiastischen Erzählungen. Natürlich wünschte ich sehr, das auch zu genießen. Freilich konnte ich das nicht ohne Gefahr. Aber meine Freunde meinten, die Polizeispitzel würden schwerlich im Theater sich nach Staatsverbrechern umsehn, und ich würde in einem Schwarm von Rachelenthusiasten ziemlich sicher sein. Ich könnte mich ja in irgend einer dunkeln Ecke des Parterre aufhalten ohne Gefahr, einem feindlichen Blick zu begegnen – wenigstens einen Abend. Mit dem Leichtsinn der Jugend entschloß ich mich dann zu dem Wagnis.

So sah ich die Rachel. Es war einer der überwältigendsten Eindrücke meines Lebens. Ich hatte die meisten der Tragödien Racines, Corneilles und Voltaires gelesen und getraute mich wohl, dem Dialog folgen zu können. Aber ich hatte nie an diesen Stücken viel Gefallen gefunden. Die darin dargestellten Empfindungen waren mir gekünstelt erschienen, die Leidenschaften unecht, die Sprache stelzenhaft, die alexandrinische Versform mit ihrer unerbittlichen Cäsur über die Maßen steif und langweilig. Ich hatte mich immer gewundert, wie solche Stücke auf der Bühne packend dargestellt werden könnten. Das sollte ich nun erfahren. Als die Rachel auf die Szene trat – nicht mit dem bekannten affektierten Kothurnschritt, sondern mit einer ihr eigentümlichen Würde und majestätischen Anmut, gab es zuerst einen Moment schweigenden Erstaunens und dann einen rauschenden Ausbruch von Beifall. Einen Augenblick stand sie still, in den Falten ihres klassischen Gewandes wie eine antike Statue frisch von der Hand des Phidias, – das Gesicht ein langes Oval; eine schön gewölbte Stirn beschattet von schwarzem welligem Haar; unter hoch geschwungenen gewitterdunkeln Brauen zwei Augen, die wie schwarze Sonnen in tiefen Höhlen brannten und leuchteten; die Nase fein und leicht gebogen mit offenen, zuckenden Nüstern; über einem energischen Kinn eine strenge, vornehme Linie der Lippen mit leicht abwärts geneigten Mundwinkeln, wie wir uns den Mund der tragischen Muse vorstellen mögen; die Gestalt, – zuweilen groß, zuweilen klein scheinend, sehr mager und doch voll Kraft; die schlanke, sprechende Hand mit ihren feinen Fingern von seltener Schönheit – der bloße Anblick versetzte den Zuschauer in einen Zustand des Erstaunens und der geheimnisvollen Erwartung.

Nun begann sie zu sprechen. In tiefen Tönen, wie aus den innersten Höhlen der Brust, ja, wie aus dem Bauche der Erde, kamen die ersten Sätze hervor. War das die Stimme eines Weibes? Eines fühlte man gewiß, – eine solche Stimme hatte man nie gehört, – nie einen Ton zuweilen so hohl und doch so voll, so gewaltig und doch so weich, so übernatürlich und doch so wirklich. Aber diese erste Überraschung

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s186.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)