Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s187.jpg

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mußte bald neuen und größeren weichen. Diese Stimme, in so tiefen Tönen beginnend, flog und rollte nun im wechselnden Spiel der Empfindungen oder Leidenschaften die Tonleiter auf und ab, – eine Oktave oder zwei, wie die Noten eines musikalischen Instrumentes von scheinbar unbegrenztem Umfang und endloser Mannigfaltigkeit der Tonfarbe. Wo war nun die Steifheit der Alexandriner geblieben? Wo die langweilige Einförmigkeit der Cäsur? Diese wunderbare Stimme und die Wirkungen, die sie auf den Hörer hervorbrachte, lassen sich kaum beschreiben ohne die Hülfe scheinbar übertriebener Metapher.

Wie ein stiller Strom durch grüne Gefilde floß die Rede dahin: oder sie hüpfte munter spielend wie ein Bach über Kieselgeröll; oder sie stürzte rauschend herab wie ein Bergwasser von Fels zu Fels. Aber wenn die Leidenschaft losbrach, wie schwoll und wogte und brauste diese Stimme gleich der vom Sturm gejagten Brandung der Meeresflut stürzend gegen den Strand; oder sie rollte und krachte und schmetterte wie der Donner nach dem Zischen des nah einschlagenden Blitzes, der uns in Schrecken auffahren macht. Die elementaren Kräfte der Natur und alle Gefühle und Erregungen der menschlichen Seele schienen entfesselt in dieser Stimme, um darin ihre beredteste, ergreifendste, durchschauerndste Sprache zu finden. Jetzt kam ein Ton der Rührung, und die Tränen schossen uns jählings in die Augen; nun eine scherzende oder einschmeichelnde Wendung, und ein glückliches Lächeln flog über alle Gesichter; nun eine Note der Trauer oder der Verzweiflung, und die Herzen aller Zuhörer zitterten vor Wehmut; aber dann einer jener furchtbaren Ausbrüche der Leidenschaft, und man griff unwillkürlich nach dem nächsten Gegenstand, um sich festzuhalten gegen den Orkan. Die wunderbaren Modulationen dieser Stimme würden allein, ohne sichtbare Gestalt, hingereicht haben, die Seele des Zuhörers mitzureißen durch all Phasen der Empfindung, der Freude, des Schmerzes, der Liebe, des Hasses, der Verzweiflung, der Eifersucht, der Verachtung, des unbändigen Zornes, der wütenden Rachesucht.

Aber wer kann den Zauber der Geste beschreiben und das Spiel der Augen und der Gesichtszüge, mit denen die Rachel den Zuschauer überwältigte, so daß die gesprochenen Worte zuweilen fast überflüssig schienen? Das war nicht allein kein Umherschwenken der Arme, kein Durchsägen der Luft, keine der armseligen mechanischen Künste, von denen Hamlet spricht. Rachels Gestikulation war sparsam und einfach. Aber wenn diese schöne Hand mit ihren schlanken, fast durchsichtigen Fingern sich erhob oder senkte, so sprach sie, und jedem Zuschauer war diese Sprache eine Offenbarung. Breiteten diese Hände sich offen in erklärender Weise aus und verharrten einen Augenblick in dieser Stellung – einer Stellung, die das Genie des Bildhauers sich nicht schöner hätte träumen können –, so eröffneten sie das vollste, befriedigendste Verständnis. Streckten diese Hände sich nach dem Freunde, dem Geliebten aus, und begleitete sie diese Bewegung mit einem Lächeln – dem Lächeln, das in ihrer Aktion selten war, aber wenn es kam, die Umgebung bestrahlte wie ein freundlicher Sonnenblick aus einem wolkigen Himmel –, so flog etwas wie ein glückliches Beben über das Haus. Wenn sie ihren edeln Kopf mit dem majestätischen Stolz der Autorität

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s187.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)