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erhob, als beherrschte sie die Welt, so mußte jeder sich vor ihr beugen. Wer würde gewagt haben, den Gehorsam zu verweigern, wenn sie, mit königlicher Macht auf ihrer Stirn, die Hand erhob zum Zeichen des Befehls? Und wer hätte aufrecht vor ihr stehen können gegen den steinig stieren Blick der Verachtung in ihrem Auge, und gegen das höhnisch vorgestoßene Kinn, und den wegwerfenden Schwung ihres Armes, der den Elenden vor ihr in das Nichts zu schleudern schien?

Es war in der Darstellung der bösen Leidenschaften und der wildesten Empfindungen, daß sie ihre ungeheuersten Wirkungen erreichte. Nichts Furchtbareres kann die Phantasie sich ausmalen, als ihren Anblick in den größten Steigerungen des Ausdrucks. Wolken von unheimlich drohender Finsternis sammelten sich auf ihren Brauen. Ihre Augen, von Natur tief liegend, schienen hervor zu quellen und funkelten und blitzten mit wahrhaft höllischem Feuer. Ihr Gesicht verwandelte sich in ein Gorgonenhaupt, und man fühlte, als sähe man die Schlangen sich in ihren Haaren winden. Ihr Zeigefinger schoß hervor wie ein vergifteter Dolch auf den Gegenstand ihrer Verwünschung. Oder ihre Faust ballte sich, als wollte sie die Welt mit einem einzigen Schlage zerschmettern. Oder ihre Finger krallten sich, wie mörderische Tigerklauen, um das Opfer ihrer Wut zu zerreißen, – ein Anblick so grauenvoll, daß der Zuschauer, schaudernd vor Entsetzen, sein Blut erstarren fühlte und, nach Atem ringend, unwillkürlich stöhnte: „Gott steh uns bei!“

Dies alles mag wie eine wilde Übertreibung klingen, wie ein extravagantes Phantasiebild, geboren aus der erhitzten Einbildung eines von der Theatergöttin bezauberten jungen Menschen. Ich muß gestehen, daß ich zuerst meinen eigenen Empfindungen mißtrauen wollte. Ich habe daher, damals sowohl wie zu späteren Zeiten, Personen reifen Alters, welche die Rachel gesehen hatten, nach den Eindrücken gefragt, die sie empfangen, und ich habe gefunden, daß diese Eindrücke sich fast nie von den meinen wesentlich unterschieden. In der Tat, ich habe oft grauköpfige Männer und Frauen, Personen von künstlerischer Erfahrung, gebildetem Geschmack und ruhigem Urteil über die Rachel sprechen hören mit derselben unbeherrschbaren Begeisterung, die mich zurzeit überwältigt hatte.

Ich kann in Wahrheit sagen, daß in meiner Bewunderung der Rachel nichts war von der oft vorkommenden Schwärmerei eines romantischen Jünglings für eine Schauspielerin. Wenn jemand mir angeboten hätte, mich bei der Rachel persönlich einzuführen, so würde nichts mich bewogen haben, die Einladung anzunehmen. Die Rachel war mir ein Dämon, ein übermenschliches Wesen, eine geheimnisvolle Naturkraft, – nur kein Weib, mit dem man frühstücken, oder über alltägliche Dinge sprechen, oder im Park spazieren fahren könnte. Meine Bezauberung war von durchaus geistiger Art. Aber die Anziehungskraft ihres Genies war so stark, daß ich ihr nicht widerstehen konnte, und so ging ich denn ins Theater, um sie zu sehen, so oft der Zweck, zu dessen Erreichung ich in Berlin war, und der häufige nächtliche Besuche in Spandau erforderte, mir dazu Zeit ließ. Dabei vergaß ich allerdings nicht ganz die Gefahr, der die Theaterbesuche mich aussetzten.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s188.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)