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Verlegenheit umher, wenn sie unternahm, die Leistungen der Rachel zu klassifizieren, oder sie mit irgend einem herkömmlichen Maßstabe zu messen. Die Rachel stand ganz allein in ihrer Eigentümlichkeit. Der Versuch, sie mit irgend andern Schauspielern oder Schauspielerinnen zu vergleichen, schien sinnlos, denn die Verschiedenheit zwischen ihr und den andern war nicht eine bloße Verschiedenheit zwischen Graden der Vortrefflichkeit, sondern eine Verschiedenheit der Art, des Wesens. Einige Schauspielerinnen jener Periode mühten sich ab, die Rachel nachzuahmen; aber wer das Original gesehen, hatte nur ein Achselzucken für die Kopie. Es war der bloße Mechanismus ohne den göttlichen Hauch. Ich habe seither nur drei Künstlerinnen höheren Ranges gesehen, die Ristori, die Wolter und Sara Bernhardt, die dann und wann mit einer Geste oder einer besondern Intonation der Stimme an die Rachel erinnerten, aber nur in flüchtigen Momenten. Im ganzen war der Unterschied doch unverkennbar. Es war der Unterschied zwischen dem wahren Genie, das unwiderstehlich überwältigt, und vor dem wir uns unwillkürlich beugen, und dem großen Talent, das wir bloß bewundern. Die Rachel ist mir daher eine alles überschattende Erinnerung geblieben. Und wenn in späteren Jahren dann und wann in meinem Freundeskreise von großen Bühnenleistungen die Rede war und sich ein besonderer Enthusiasmus über eine lebende Theatergröße laut machte, so habe ich selten die Bemerkung zurückhalten können, – in der Tat, ich fürchte, ich habe sie oft genug bis zur Langweiligkeit wiederholt: „Alles recht schön, aber ihr hättet die Rachel sehen sollen!“

Wenige Tage nach meiner Begegnung mit dem Polizeispion traf mich ein wirkliches Unglück. Ich ging mit meinen Freunden Rhodes und Müller in ein öffentliches Badehaus. In der Zelle, in welcher ich mich nach dem Bade wieder ankleidete, glitt ich auf dem nassen Fußboden aus und verletzte durch den Fall meine linke Hüfte dergestalt, daß ich nicht aufzustehen vermochte. Ich wurde nun von meinen Freunden unter großen Schmerzen in eine Droschke gepackt und nach meinem Quartier in der Markgrafenstraße geschafft, wo zwei herbeigerufene junge Ärzte, von denen einer, Dr. Tendering, mein Universitätsgenosse in Bonn gewesen, zurzeit aber Kompagniechirurg in einem Infanterieregiment war, den Schaden untersuchten. Da ich sehr litt, so wurde ich, zum erstenmal in meinem Leben, unter Chloroform gesetzt. Ich erinnere mich noch sehr deutlich des Traumes, den das Chloroform hervorbrachte. Mir war, als säße ich auf einer rosafarbenen Wolke, die sich langsam mit mir von der Erde erhob, aber mein linker Fuß war an der Erde festgebunden und das Hinaufsegeln der Wolke verursachte eine etwas schmerzhafte Spannung. In der Tat waren die beiden Ärzte damit beschäftigt, mein linkes Bein zu ziehen und hin und her zu drehen. Sie fürchteten nämlich, ich hätte den linken Schenkelhals gebrochen. Aber ich litt nur, wie die Ärzte sich überzeugten, an einer sehr starken Quetschung, die mich längere Zeit ans Bett zu fesseln drohte. Da lag ich denn, unbeweglich und hülflos, während die Stadt von Polizeiagenten wimmelte, denen der Fang eines pfälzisch-badischen Freischärlers, der noch dazu wegen sonstiger politischer Untaten verfolgt und jetzt in sehr sträflichen Dingen engagiert war, ein besonderes Vergnügen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s190.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)