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auf seine Diskretion konnte ich mich fest verlassen. Später haben viele Personen, die mir ganz fremd waren, erzählt, sie seien damals mit mir zusammengetroffen und in meinem Vertrauen gewesen, aber das war bloße Einbildung. Selbst Dr. Falkenthal und Krüger kannten zu jener Zeit meinen wahren Namen nicht. Ihnen war ich, wie mein Reisepaß besagte, Heribert Jüssen, und unter Dr. Falkenthals Nachbarn in Moabit, die mich zuweilen sahen, galt ich als ein junger Mediziner, der dem Doktor bei seinen Studien assistierte. Um diesen Glauben zu bestärken, trug ich eine kleine Tasche mit chirurgischen Werkzeugen, wie die Ärzte sie häufig bei sich führen, mit mir herum. Von Moabit machte ich meine nächtlichen Fahrten nach Spandau wie vorher.

Aber auch nach meiner Rückkehr von Hamburg wollte es mir nicht sogleich glücken, unter den Zuchthausbeamten den richtigen Mann zu finden. Ein vierter wurde mir vorgeführt, doch auch dieser wollte sich zu nichts mehr verstehen, als Kinkel einige Lebensmittel und etwa Briefe zuzuführen. Ich fing an, die Ausführbarkeit des bis dahin verfolgten Planes ernstlich zu bezweifeln, denn die Liste der Unterbeamten des Zuchthauses mußte nahezu erschöpft sein. Da fand ich plötzlich, was ich so lange vergeblich gesucht hatte. Meine Spandauer Freunde machten mich mit dem Gefangenenwärter Brune bekannt.

Im ersten Augenblick empfing ich von Brune einen Eindruck sehr verschieden von dem, den seine Kollegen mir gegeben hatten. Auch er war Unteroffizier gewesen; auch er hatte Frau und Kinder und ein spärliches Gehalt wie die andern. Aber in seinem Wesen war nichts von der unterwürfigen Demut der Subalternnatur. Als ich ihm von Kinkel sprach und von meinem Wunsche, daß sein Elend wenigstens durch kräftigere Nahrung etwas erleichtert werde, machte Brune nicht das kläglich verlegene Gesicht eines Menschen, der zwischen seinem Pflichtgefühl und einer Zehntalernote mit sich unterhandelt. Brune trat fest auf wie ein Mann, der sich dessen nicht schämt, was er zu tun willig ist. Er sprach frei davon, ohne auf meine schrittweise vorgehenden Andeutungen zu warten. „Gewiß will ich dem Mann helfen, so viel ich kann,“ sagte er. „Es ist eine Gottesschande, daß ein so gelehrter und tüchtiger Herr unter gemeinen Halunken im Zuchthause sitzt. Ich würde ihm selbst heraushelfen, wenn ich nicht für Frau und Kinder zu sorgen hätte.“ Seine Entrüstung über die Behandlung, die Kinkel erfahren, schien so ehrlich, und die ganze Art des Mannes drückte so viel Mut und Entschlossenheit aus, daß ich dachte, auch ohne die gewöhnlichen Umwege mit ihm zum Ziele zu kommen. So sagte ich ihm denn ohne weiteres, daß, wenn der Lebensunterhalt seiner Familie sein größtes Bedenken sei, ich wohl imstande sein werde, dafür zu sorgen. Wenn dies geschähe, würde er dann, fragte ich, bereit sein, zur Befreiung Kinkels hülfreiche Hand leisten? „Wenn es gemacht werden kann,“ antwortete er. „Aber Sie sehen ein, es ist eine schwierige und gefährliche Sache. Ich will mir’s überlegen, ob und wie es gelingen kann. Geben Sie mir drei Tage Bedenkzeit.“

„Gut,“ sagte ich. „Überlegen Sie sich’s.“

„Nach Ihrer Sprache sind Sie ein Westfale,“ setzte ich hinzu.

„Ja, bei Soest zu Hause.“

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s195.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)