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„Dann sind wir ja nicht entfernte Nachbarn. Ich bin ein Rheinländer. In drei Tagen also, Landsmann.“

Das waren lange drei Tage, die ich in Dr. Falkenthals Quartier zubrachte. Ich beschwichtigte meine Ungeduld damit, daß ich Dumas’ „Drei Musketiere“ und einen großen Teil von Lamartines „Geschichte der Girondisten“ las. Aber das Buch sank mir nicht selten in den Schoß, und meine Gedanken schweiften abseits.

Am Abend des dritten Tages fuhr ich wieder nach Spandau, und es fiel mir eine schwere Last vom Herzen, als ich Brunes erstes Wort hörte. „Ich habe mir’s überlegt,“ sagte er. „Ich glaube, es wird gehen.“

Ich hätte ihm um den Hals fallen mögen. Brune setzte mir nun auseinander, wie in einer Nacht, wenn er die Wache in den oberen und ein gewisser anderer Beamter die Wache in den unteren Räumen des Zuchthauses habe, er sich die nötigen Schlüssel verschaffen und Kinkel an das Tor des Gebäudes bringen wolle. Der Plan, den er mir darlegte, und auf dessen Einzelheiten ich zurückkommen werde, schien ausführbar. „Aber“, setzte Brune hinzu, „es wird noch einige Zeit dauern, bis alles in rechter Ordnung ist. In der Nacht vom 5. auf den 6. November sind die Nachtwachen, wie sie sein sollen.“

„Gut,“ antwortete ich. „Auch ich brauche noch einige Zeit für nötige Einrichtungen.“

Dann eröffnete ich Brune, was ich für seine Familie zu tun imstande sei. Es stand mir eine Summe Geldes zur Verfügung, die teils von deutschen Parteigenossen, teils von persönlichen Freunden oder Bewunderern Kinkels, darunter die russische Baronin Brüning, von der noch mehr die Rede sein wird, zusammengesteuert worden war. Diese Summe erlaubte mir, Brune einen anständigen Vorschlag in bezug auf die Versorgung seiner Familie zu machen. Brune war damit zufrieden. Die Frage, ob es nicht am besten sein werde, ihn mit den Seinigen nach Amerika zu befördern, verneinte er sofort, – sei es, daß er hoffte, als Helfer bei dem Unternehmen unentdeckt zu bleiben, oder daß er vorzog, im Falle der Entdeckung seine Strafe zu erdulden und seine Familie im Vaterlande zu behalten.

Wir waren also einig. Nun ging es an die unmittelbaren Vorbereitungen. Frau Kinkel hatte mich angewiesen, die zur Verfügung stehende Summe in Berlin bei einer ihr befreundeten Dame, einer Verwandten des berühmten Felix Mendelssohn-Bartholdy, persönlich abzuholen. Es war gegen Abend, als ich an dem mir bezeichneten Hause ankam. Ich wurde von einem feierlichen Diener, dem ich meinen Namen, Heribert Jüssen, gab, in einen großen Salon gewiesen, in welchem alles, Möbel, Bilder, Bücher, musikalische Instrumente, ein elegantes Behagen atmete. Ich hatte eine Weile zu warten, und der Kontrast zwischen meinem wilden Geschäft und dieser Umgebung wurde mir recht fühlbar. Endlich trat eine in Schwarz gekleidete Dame ein, deren Züge ich im Dämmerlicht eben unterscheiden konnte. Sie war nicht mehr jung und auch nicht gerade schön, aber ihre Erscheinung strahlte Anmut aus. In ihrer Hand trug sie eine große Brieftasche.

„Sie bringen mir Grüße von einer Freundin aus dem Rheinland?“ sagte sie fragend mit einer wohltuenden Altstimme.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s196.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2021)