Seite:Wilamowitz Geschichte der griechischen Sprache 19.jpg

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Ausgabe lassen sich Wortgebrauch und Stil auch jetzt schon sehr wohl untersuchen.

Es ist ein Glück, daß die alexandrinische Bibliothek nicht bloß Bücher, sondern den ganzen schriftlichen Nachlaß aufgekauft und herausgegeben hat, der sich in ärztlichen Familien (hippokratischen, wie ich gern glaube) erhalten hatte. Dem verdanken wir die Epidemien, unter denen sich die einzigen sicher von dem großen Hippokrates herrührenden Stücke erhalten haben; in ihren Krankheitsgeschichten erscheinen Namen, die wieder durch einen seltenen Glücksfall in zeitlich einigermaßen bestimmbaren thasischen Beamtenlisten wiederkehren. Auch die wirre Masse der anderen Epidemienbücher war nur für den persönlichen Gebrauch eines Arztes bestimmt. Es ist eine peinliche Versäumnis, daß hier die Analyse über die schönen Vorarbeiten Littrés hinaus immer noch nicht gediehen ist, eine gar nicht schwere Aufgabe, die jedesmal von neuem lockt, wenn man die Bücher zur Hand nimmt. Formlos ist das alles, und die Vorschriften über die Einrichtung einer Arztstube (τὰ κατ’ ἰητρεῖον) sind in kaum verständlichen abgerissenen Sätzen gegeben. Aber nirgend finden wir ein Stammeln aus Unvermögen, wie oft in den archaischen Gesetzen, vielmehr ist die Herrschaft über die Rede so vollkommen, daß dem eilig nur für sich Schreibenden die Andeutung durch kurze Schlagworte genügt; oft fehlen Verba ganz.

Diese Sprache ist eben allen Aufgaben gewachsen, und sie hat bereits feste Stilformen ausgebildet, innerhalb deren sich das individuelle Können des einzelnen erst eindringender Forschung erschließen wird. Um das recht zu würdigen, muß man freilich über die Sorte von Literaturgeschichte[1] hinaus sein, die sich nur an die belles lettres hält,


  1. Literaturwissenschaft tut sich als eine neue Disziplin auf, die sehr bequem sein mag, um sich der Philologie zu entziehen, denn zu der muß man [20] die Sprachen beherrschen. Da sollen wir Philologen sie ruhig abwelken lassen, denn Früchte kann sie nicht bringen. Aber freilich müssen wir beherzigen, daß die antiken Literaturen nur der verstehen wird, der befähigt ist, sie mit denen der anderen Völker zu vergleichen, χρὴ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλολόγους ἄνδρας εἶναι.