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wurde Geist. Da naschtest du vom Blütenstaub der Pfirsiche am Nephritteich und wurdest zur Strafe dafür vom grünen Pfau, der unten am Throne der Königin-Mutter sitzt, zu Tode gepickt. Nun bist du als Mensch wieder zur Welt gekommen.“

Als Dschuang Dsï diese Worte vernahm, da erinnerte er sich nebelhaft seines früheren Lebens und faßte den festen Entschluß, seinen Wandel zu pflegen. Laotse bemerkte, wie klug er war, und weihte ihn daher in die Geheimnisse des Buches vom Sinn und Leben ein.

Von jener Zeit ab verstand es Dschuang Dsï, als Doppelgänger zu erscheinen, sich unsichtbar zu machen und jede beliebige Gestalt anzunehmen. Er zog sich von der Welt zurück ins Blütenland des Südens.

Als er eines Tages in den Bergen wanderte, da sah er eine junge Frau in Trauerkleidung, die saß vor einem frischen Grab, hielt einen seidenen Fächer in der Hand und fächelte unaufhörlich dem Grabe Luft zu.

Dschuang Dsï fragte erstaunt, was sie tue.

„Mein dummer Mann“, erwiderte die Frau, „ist unglückseligerweise gestorben. Zu seinen Lebzeiten war er immer gut zu mir. Bei seinem Tode ermahnte er mich, daß, wenn ich einen andern heiraten wollte, ich warten müsse, bis die Erde seines Grabes trocken sei. Nun sage ich mir, daß frisch gehäufte Erde nicht plötzlich trocken werden kann. Darum fächle ich das Grab.“

„Ihr möchtet wohl“, sprach Dschuang Dsï lachend, „daß das neue Grab bald trocken würde? Nichts leichter als das! Darf ich Euch ein wenig helfen?“

Damit nahm er den Fächer, sprach im geheimen einen Zauberspruch, fächelte ein paarmal nach dem Grabe, und schon war auch die Erde trocken.

Die junge Frau war hocherfreut, bedankte sich bei Dschuang Dsï, schenkte ihm noch zum Abschied ihren seidenen Fächer und ging fröhlich ihrer Wege.

Dschuang Dsï kam heim und setzte sich ins Gartenhaus.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_094.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)