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zu ihm sprach. Das Blut stieg ihm zu Kopf, und er erwiderte: „Ich habe den Boten gemacht, weil ich Mitleid hatte mit der Prinzessin, nicht aber, um mir selbst einen Vorteil dabei zu verschaffen. Den Gatten töten und die Frau entführen, so etwas tut ein rechter Mann nicht. Bin ich auch nur ein gewöhnlicher Mensch, so will ich lieber sterben, als nach Euren Worten handeln.“

Tsiän Tang stand auf, entschuldigte sich und sprach: „Meine Worte waren allzu übereilt. Ich hoffe, Ihr nehmt mirs nicht übel.“ Und auch der Herr vom Dungting-See sprach ihm gütlich zu und tadelte Tsiän Tang wegen seiner rohen Rede. Von der Heirat wurde nicht mehr gesprochen.

Tags darauf verabschiedete sich Liu I, und die Königin vom Dungting-See gab zum Abschied noch ein Festmahl.

Die Königin sprach unter Tränen zu Liu I: „Meine Tochter ist Euch zu tiefem Dank verpflichtet, und wir haben keine Gelegenheit gehabt, es Euch zu vergelten. Nun geht Ihr weg, und wir lassen Euch mit schwerem Herzen ziehen.“

Darauf befahl sie der Prinzessin, sich zu bedanken.

Die stand errötend auf, verneigte sich vor ihm und sprach: „Wir werden uns wohl niemals wiedersehen!“ Dann erstickte ihre Stimme in Tränen.

Liu I hatte wohl dem stürmischen Drängen des Oheims sich widersetzt, doch wie er nun die Prinzessin in aller ihrer Lieblichkeit vor sich stehen sah, da tat es ihm von Herzen leid; allein er bezwang sich und ging weg. Der Schätze, die er mitbekam, waren unermeßlich viele. Der König selbst mit seinem Bruder gab ihm das Geleite bis zum Fluß.

Als er zu Hause ein Hundertstel von dem, was er bekommen, verkaufte, da zählte sein Vermögen schon nach Millionen, und er ward reicher als alle seine Nachbarn. Zweimal verheiratete er sich, doch starben beide Frauen nach kurzer Zeit. So wohnte er denn allein in der Hauptstadt.

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_168.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)