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„O ja, ziemlich.“

Da fragten sie ihn höhnisch: „Die Leute haben doch Götter gebeten, nicht berühmte Männer. Sie wollten den Stadtgott oder den Ackergott haben. Wie kann ein so großer Mann wie du dahin gehen, um bei ihnen zu essen?“

In die Enge getrieben, hieß es: „Ich bin gar nicht der Doktor. Ich bin Li Be-Niän aus Schantung.“

„Wer war denn Li Be-Niän?“ fragten sie.

„Ich war ein Baumwollhändler zur Zeit Kanghis und starb hier unterwegs. Meine Seele wohnt in dem Tempelchen bei der Brücke. In dem Tempelchen hausen außer mir noch zwölf andere heimatlose Seelen. Weil wir keine besondere Schuld hatten, können wir uns frei bewegen. Die Opfer, die so im Dorf herum gebracht werden, kommen alle uns zugut.“

Sie fragten: „Die Opfer für den Stadtgott und die andern Götter sind doch alle an einen bestimmten Namen gerichtet. Wie könnt ihr namenlosen Seelen euch denn unter diese Götter mischen?“

Da hieß es: „Der Stadtgott und die andern gehen nicht so ohne weiteres in der Leute Häuser. Die Opfer, die man dort bringt, bleiben alle von ihnen unberührt. Das machen wir uns zunutze.“

Nun fragte man: „Wenn ihr Namenlosen die Opfer der himmlischen Götter aufeßt, und die erfahren es, bestrafen sie euch da nicht?“

„Was fragen die himmlischen Götter nach solchen Gebeten! Das sind alles nur Gebräuche und Sitten der törichten Menschen. Kommt es doch vor, daß Dämonen die Leute besessen machen, um Speiseopfer zu erpressen, und es geschieht ihnen selbst dann nichts. Wieviel weniger werden sich die Himmlischen darum kümmern, wenn wir uns Speiseopfer zunutze machen, die wir nicht erpreßt, sondern die die andern von sich aus hingestellt haben. Der Tee und Wein, den ihr mir dargebracht habt, ist ja auch nicht von mir erpreßt worden.“

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_195.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)