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begegnen. Dem Soldaten fehlte es nicht an Mut. So stellte er sich schlafend und regte sich nicht. Mit halb geschlossenen Augen blinzelte er nach ihr. Da sah er, wie sie aus dem Ärmel einen Strick hervornahm und verschwand. Er merkte nun, daß er’s mit einem erhängten Gespenst zu tun hatte. Leise erhob er sich und ging ihr auf dem Fuße nach. Richtig ging sie ins Dorf.

Als sie an ein Haus kam, da schlüpfte sie durch eine Türspalte in den Hof. Der Soldat sprang über die Mauer ihr nach. Es war ein Haus mit drei Zimmern. Im hintersten brannte eine Lampe mit trübem Glimmerschein. Er blickte durch die Fensterritze in das Zimmer. Da sah er eine Frau von etwa zwanzig Jahren, die saß auf ihrem Bett und seufzte tief, und von ihren Tränen war ihr Tuch ganz naß geworden. Neben ihr lag ein kleines Kind, das schlief. Die Frau blickte nach dem Dachbalken hinauf. Bald weinte sie, bald streichelte sie das Kind. Als der Soldat näher hinsah, da war der Geist der Erhängten auf dem Balken. Den Strick hatte sie sich um den Hals gelegt und machte die Bewegung des Erhängens. Sooft sie mit der Hand winkte, sah die Frau zu ihr hinauf. So dauerte es eine lange Zeit.

Endlich sprach die Frau: „Du sagst, es sei am besten zu sterben. Gut, ich will sterben; aber ich kann mich von dem Kind nicht trennen.“

Dann brach sie wieder in Tränen aus. Das Gespenst lachte und lockte sie aufs neue.

Da sprach die Frau entschlossen: „Es ist aus. Ich will sterben.“

Mit diesen Worten öffnete sie ihre Kleiderkiste, zog neue Kleider an und schminkte sich vor dem Spiegel. Dann zog sie eine Bank heran und stieg hinauf. Sie band ihren Gürtel ab und knüpfte ihn an den Balken. Schon hatte sie den Hals ausgestreckt und wollte hinunterspringen, da wachte das Kind plötzlich auf und fing an zu weinen. Die Frau stieg wieder hinunter und säugte ihr Kind und tätschelte es auf den Rücken. Und wie sie tätschelte, da weinte sie,

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_199.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)