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Leopard war mit dreißig Jahren schon Feldmarschall. Seine Mutter begleitete ihn auf seinen Kriegszügen. Nahte sich ein gefährlicher Feind, so zog sie die Rüstung an und nahm das Messer zur Hand, um ihm statt ihres Sohnes entgegenzutreten. Unter den Feinden, die sie trafen, war keiner, der nicht entsetzt die Flucht ergriffen hätte. Wegen ihres Mutes erhielt sie vom Kaiser den Titel „Überweib“. –

In den Geschichtenbüchern heißt es immer, die Oger seien selten. Doch wenn man sichs genau überlegt, so sind sie gar nicht ungewöhnlich. Ein jeder Ehemann hat schließlich in seinem Hause solch ein Ogerchen.


76. Das geraubte Mädchen

Im Westen der alten Hauptstadt Lo Yang lag ein verfallenes Kloster. Dort stand eine ungeheure Pagode, mehrere hundert Stockwerke hoch. Auf ihrer Spitze konnten noch immer drei bis vier Menschen stehen.

In der Nähe wohnte ein schönes Mädchen; die saß eines Tages, als der Sommer heiß war, im Hofe, um sich zu kühlen. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, der das Mädchen entführte. Als sie die Augen öffnete, da war sie auf der Spitze der Pagode. Neben ihr stand ein junger Mann in der Tracht eines Scholaren.

Der war gar hübsch und höflich und sprach zu ihr: „Wir sind vom Himmel füreinander bestimmt.“

Darauf nahm er Brot und Wein und feierte mit ihr die Hochzeit. Seitdem war er tagsüber weg und kam abends zurück. Beim Weggehen schloß er mit Steinen die Öffnungen der Pagode. Auch hatte er einige Stufen der Treppe entfernt, so daß sie ihre Behausung nicht verlassen konnte. Wenn er heimkam, brachte er immer Wein und Speisen mit, die er mit dem Mädchen teilte. Auch Schminke und

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_224.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)