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Puder, Kleider und Röcke und allerhand Schmucksachen schenkte er ihr. Er habe sie auf dem Markt gekauft, sagte er. Auch hängte er einen Karfunkelstein auf, so daß es auch bei Nacht ganz hell in der Pagode war. Das Mädchen hatte alles, was ihr Herz begehrte, und dennoch fühlte sie sich nicht wohl.

Im Laufe der Monate war er vertraut mit ihr geworden, und als er eines Tages wegging, vergaß er, das Fenster zu schließen. Das Mädchen spähte ihm heimlich nach, da sah sie, wie ihr Jüngling sich in einen Oger verwandelte, die Haare rot wie Krapp, das Gesicht schwarz wie Kohle. Die Augäpfel quollen aus ihren Höhlen hervor, und der Mund glich einer Blutschüssel. Aus den Lippen drangen krumme Stoßzähne heraus, an den Schultern schossen zwei Flügel hervor. Damit flog er zur Erde und verwandelte sich dann wieder in einen Menschen.

Das Mädchen ward von Entsetzen erfaßt und brach in Tränen aus. Sie blickte von ihrer Pagode herunter; da sah sie unten einen Wanderer vorbeigehen. Sie rief ihn an; aber die Pagode war so hoch, daß die Stimme nicht bis unten drang. Sie winkte ihm mit der Hand; aber der Wanderer blickte nicht auf. Sie wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie ihre alten Kleider, die sie früher getragen, hinunterwarf. Sie flatterten durch die Luft zu Boden.

Der Wanderer hob die Kleider auf. Dann sah er an der Pagode hinauf und entdeckte ganz droben auf der Spitze eine winzige Gestalt, die einem Mädchen glich; doch konnte er ihre Gesichtszüge nicht unterscheiden. Lange besann er sich vergebens. Dann ging ihm ein Licht auf.

„Unsere Nachbarstochter“, sprach er bei sich selbst, „wurde ja von einem Zaubersturm entführt, sollte sie vielleicht da oben stehen?“

Da nahm er die Kleider mit und zeigte sie den Eltern des Mädchens. Die Eltern brachen beim Anblick der Kleider in Tränen aus.

Das Mädchen hatte aber einen Bruder, der war so stark

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 225. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_225.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2020)